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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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solle: Ich würde verrückt, wenn ich nicht nach Europa ginge, und ginge ich, würde ich erst recht verrückt.»
    « Nun», sagte ich,«Sie sind noch hier und dennoch nicht verrückt.»
    Sie sah mich einen Augenblick an und entgegnete:« Da bin ich mir nicht so sicher. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Ich denke immer nur daran. Das hält mich davon ab, an Dinge zu denken, die wichtiger sind, an Dinge, um die ich mich kümmern sollte. Das ist schon eine Art Verrücktheit.»
    « Von der eine Reise nach Europa Sie heilen wird», sagte ich.
    « Ich glaube ganz fest daran, dass ich reisen
werde. Ich habe einen Vetter in Europa!», verkündete sie.
    Wir sahen uns noch einige Photographien an, und ich fragte sie, ob sie immer in Grimwinter gelebt habe.
    « O nein, Sir», sagte Miss Spencer.«Ich habe dreiundzwanzig Monate in Boston verbracht.»
    Ich antwortete scherzhaft, in diesem Fall würden fremde Länder sich für sie wahrscheinlich als Enttäuschung entpuppen, doch ich vermochte sie nicht zu beunruhigen.
    « Ich weiß besser Bescheid, als Sie vielleicht denken», sagte sie mit ihrem feinen, schüchternen Lächeln.«Aus Büchern, meine ich. Ich habe eine Menge gelesen. Ich habe nicht nur Byron gelesen, sondern auch Geschichtswerke und Reiseführer. Ich weiß, es wird mir gefallen!»
    « Ich verstehe Sie sehr gut», erwiderte ich.«Sie haben diese angeborene amerikanische Leidenschaft – die Leidenschaft für das Pittoreske. Ich glaube, sie ist von Anfang an in uns angelegt – vor jeglicher Erfahrung. Die Erfahrung kommt später, und sie zeigt uns lediglich etwas, wovon wir schon geträumt haben.»
    « Ich glaube, das stimmt», sagte Caroline Spencer.« Ich habe alles schon in meinen Träumen gesehen; ich werde alles wiedererkennen!»

    « Ich fürchte, Sie haben eine Menge Zeit vergeudet. »
    « O ja, das war mein großer Fehler.»
    Die Leute um uns herum waren nach und nach aufgestanden und machten Anstalten aufzubrechen. Miss Spencer erhob sich ebenfalls und streckte mir die Hand entgegen, zaghaft, aber mit einem eigenartigen Leuchten in den Augen.
    « Ich werde wieder nach Europa reisen», sagte ich, als ich ihre Hand ergriff.«Ich werde nach Ihnen Ausschau halten.»
    « Und ich werde es Ihnen sagen, wenn ich enttäuscht bin», antwortete sie.
    Mit diesen Worten entfernte sie sich. Sie wirkte bezaubernd aufgeregt und fächelte mit ihrem kleinen Strohfächer.

II
    Einige Monate später kehrte ich nach Europa zurück, und etwas über drei Jahre vergingen. Ich lebte damals in Paris, und gegen Ende Oktober fuhr ich von da nach Havre, um meine Schwester und ihren Mann abzuholen, die mir geschrieben hatten, sie würden in diesen Tagen
dort eintreffen. Bei meiner Ankunft in Havre stellte ich fest, dass das Dampfschiff bereits angelegt hatte; ich war fast zwei Stunden zu spät. Ich begab mich sogleich in das Hotel, in dem meine Verwandten Quartier genommen hatten. Meine Schwester war, von der Reise erschöpft und unpässlich, zu Bett gegangen; sie wurde äußerst leicht seekrank, und diesmal hatte sie besonders arg gelitten. Sie wollte im Augenblick nicht weiter gestört werden und sah sich außerstande, mich länger als fünf Minuten zu empfangen. Wir vereinbarten deshalb, bis zum nächsten Tag in Havre zu bleiben. Mein Schwager, der sich um seine Frau sorgte, wollte ihr Zimmer nicht verlassen, doch sie bestand darauf, dass er mit mir ging, um einen Spaziergang zu machen und wieder Land unter seinen Füßen zu spüren. Es war ein zauberhafter warmer Frühherbsttag, und unser Streifzug durch die farbenfrohen geschäftigen Straßen der alten französischen Hafenstadt war hinlänglich unterhaltsam. Wir spazierten die sonnigen, lauten Kais entlang und bogen dann in eine breite, freundliche Straße ein, die zur Hälfte in der Sonne und zur Hälfte im Schatten lag – eine französische Provinzstraße wie auf einem alten Aquarell: hohe, graue, mehrstöckige Häuser mit steilen Dächern und roten
Giebeln; grüne Läden an den Fenstern und altes Schnörkelwerk darüber; Blumentöpfe auf Balkonen und weißbehaubte Frauen in Türeingängen. Wir gingen im Schatten; all dies erstreckte sich entlang der Sonnenseite der Straße und ließ sie aussehen wie ein Gemälde. Wir betrachteten es, während wir dahinschlenderten; dann blieb mein Schwager, mich leicht am Arm drückend, plötzlich stehen und starrte geradeaus. Ich folgte seinem Blick und stellte fest, dass wir angehalten hatten, just bevor wir ein Café erreichten, wo

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