Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
kräftig gebaut, stämmig und hatte Oberarme wie eine Gewichtheberin. Sie trug einen beigen Rock und eine weit geschnittene Sommerbluse, die ihre Leibesfülle geschickt verhüllte. Die schulterlangen, mittelblonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Wieso denn das auf einmal?«, fragte Tannenberg. »Sonst beschwerst du dich doch immer gleich, wenn die Heizung nur ein kleinbisschen zu warm ist.«
»Da hab ich es eben noch nicht gewusst.«
»Was hast du noch nicht gewusst?«
Petra Flockerzie hielt ihm ein schmales Büchlein entgegen. »Wie positiv sich hohe Temperaturen auf den Abbau unserer Körperfette auswirken«, erklärte sie ihrem perplexen Vorgesetzten. Sie schlug die Broschüre auf und begann daraus zu zitieren: »Da steht’s: Unsere revolutionäre Turbo-Flüssigkeits-Diät sollte am besten bei hochsommerlichen Temperaturen durchgeführt werden.« Demonstrativ ergriff sie eine Tasse mit der Aufschrift ›Übergewicht einfach wegtrinken‹ und hob sie kurz in die Höhe. Danach ergänzte sie: »Scholl’s Turbo-Grüntee-Diät fördert entscheidend die Thermogenesis …«
»Thermo-genesis? Dieses Wort hab ich ja noch nie gehört.«
»Das ist die Fettverbrennung, Chef«, erläuterte sie in belehrendem Ton. »Es ist ganz einfach: Je mehr man schwitzt, umso effektiver und schneller funktioniert diese wunderbare Diät.«
Tannenberg ließ ein skeptisches Brummen verlauten.
»Doch, das ist wirklich so, das haben internationale Experten bewiesen.« Ergriffen seufzte sie auf und tupfte sich dabei mit einem Papiertaschentuch die Nässe von ihrem speckig-glänzenden Gesicht. »Diese neue Trinkdiät entschlackt so wunderbar. Das Tein regt den Kreislauf an, der Körper wird entgiftet, die Darmtätigkeit reguliert, das Immunsystem gestärkt.«
Sie führte die Tasse zum Mund, schloss die Augen und schlürfte an der zartgelben Flüssigkeit. »Man spürt tatsächlich bei jedem kleinen Schluck, wie die Pfunde Gramm für Gramm verschwinden. Die schmelzen weg wie Butter in der Sonne.«
Während des emphatischen Vortrags seiner Sekretärin wanderte Tannenbergs schmunzelnder Blick zur Decke empor, wo ein mächtiger Ventilator erfolglos gegen die schwülwarme, stickige Raumluft ankämpfte. Als er die kreisenden Rotorblätter sah, veränderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Wie aus dem Nichts überfiel ihn ein Déjà-vu-Erlebnis. Unwillkürlich musste er an einen Vorfall denken, der nun schon fast zwanzig Jahre zurücklag, der ihm aber trotzdem auch heute noch einen schmerzhaften Stich in die Magengegend versetzte.
Seine verstorbene Frau Lea und er hatten sich damals des öfteren Heiners Tochter Marieke ausgeliehen – aus Trainingsgründen, wie Lea diese zeitweise Babybetreuung gerne nannte. Schließlich sah die eigene Familienplanung mindestens drei Kinder vor. Obwohl Lea Kinderärztin war, hatten ihr die vorwiegend medizinischen Erfahrungen mit Kleinkindern nicht ausgereicht. Sie wollte mit einem gesunden Baby Alltagserfahrungen sammeln. Zudem sollte ihr Ehemann auf diese Weise auf den von ihm zu erbringenden Beitrag zur Versorgung des gemeinsamen Nachwuchses vorbereitet werden.
Es war an einem schwülheißen Samstag im Hochsommer. Wolfram Tannenberg hatte seine süße Nichte in einem Babyrucksack durch die halbe Stadt getragen. Zunächst waren sie ziellos umhergewandert und hatten sich am Fackelbrunnen ein wenig erfrischt. Nach einem Einkaufsbummel über den Wochenmarkt hatten Mariekes Ersatzeltern als krönenden Abschluss ihres Ausflugs eine Eisdiele angesteuert.
Die schattigen Plätze im Freien waren alle besetzt. Während sie sich die verschiedenen Eissorten betrachteten, griff Tannenberg in bewährter Manier nach hinten und schob seine riesigen Pranken unter Mariekes Ärmchen. Anschließend zog er das Baby vorsichtig aus dem Rucksack. Er wollte gerade die Arme nach oben durchdrücken und so den kleinen Fratz über seinen Kopf heben, als unmittelbar hinter ihm ein gellenden Schrei ertönte. Er hielt abrupt inne. Ehe er sich versah, hatte eine junge Frau seine Arme gepackt und sie nach unten gezogen.
Im ersten Moment verstand er überhaupt nichts. Erst als die Frau mit zitternder Hand nach oben wies und seine Augen der Armbewegung folgten, begriff er endlich: Etwa einen halben Meter über ihm kreisten die Rotorblätter eines Deckenventilators. Diesen panischen Schrei würde er wohl niemals vergessen können. Auch jetzt klang er ihm mit Nachhall im Ohr und jagte ihm eiskalte Schauder
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