Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
den Rücken hinunter.
In einem tiefen Zug sog Tannenberg die abgestandene Luft ein. Kopfschüttelnd glitt sein Blick durch den von seiner Sekretärin beherrschten, zentralen Bereich, an den die Zimmer der K 1-Mitarbeiter angrenzten. Bis auf sein eigenes Büro standen alle Türen offen.
»Sag mal, Flocke, wo stecken denn eigentlich meine werten Kollegen?«
Die Sekretärin, immer noch in die Lektüre des Diätratgebers vertieft, tat die Frage zuerst mit einem Schulterzucken ab. Doch plötzlich schien sie sich daran zu erinnern, dass sie sich gegenwärtig nicht zu Hause, sondern an ihrem Arbeitsplatz aufhielt. Sie reagierte wie eine Schülerin, die gerade von der Lehrerin aus ihren Tagträumereien herausgerissen wurde: Ein Ruck ging durch ihren Körper, sie richtete sich ein wenig auf. Nahezu zeitgleich ließ sie die Broschüre in der Schublade verschwinden.
»Weiß ich nicht, Chef«, antwortete sie lauter als beabsichtigt. Als sie Tannenbergs verdutztes Mienenspiel bemerkte, schob sie mit vorwurfsvollem Unterton nach: »Haben Sie denn vergessen, dass ich heute Morgen Urlaub genommen habe? Ich bin doch auch erst seit ein paar Minuten hier.«
Dann weiß sie sicherlich auch noch nichts von dem Leichenfund an der Jammerhalde, dachte Tannenberg. Natürlich! Sonst hätte sie mich nicht mit ihrer neuesten Diät vollgequatscht, sondern mir Löcher in den Bauch gefragt.
»Irgendwie hab ich das Gefühl, Sie könnten jetzt einen doppelten Espresso gut gebrauchen«, meinte Petra Flockerzie. »Das Koffein ist gut für die Gedächtnisleistung, die ja mit zunehmendem Alter rapide abnimmt.«
Bevor Tannenberg diese Spitze kommentieren konnte, betrat Sabrina den Raum. Sie hatte das verlockende Angebot der Sekretärin anscheinend mitgehört.
»Für mich bitte auch einen, Flocke«, bat die junge Kriminalbeamtin. Sie drückte die Flurtür ins Schloss und trat auf ihren Vorgesetzten zu. »Na, mein liebes Wölfchen, wie haben denn Mamas ›rostige Ritter‹ geschmeckt?«
Während der Angesprochene mit der bröckeligen Version eines Lächelns reagierte, weiteten sich Petra Flockerzies Augen und feuerten einen schmachtenden Blick in Richtung des Kommissariatsleiters ab.
»›Rostige Ritter‹«, seufzte sie in ihren nächsten Atemzug hinein. »Hmh«, brummte sie sehnsüchtig, »die würde ich so gerne auch mal wieder essen.«
Doch urplötzlich veränderte sich ihre Mimik und erinnerte nun an die eines kleinen Kindes, dem man einen Löffel Lebertran vor den Mund hielt. Sie hatte nämlich gerade an ihr eigenes Mittagsmahl gedacht, welches sie in Gestalt von trockenem Knäckebrot und zwei Magermilchjoghurts in ihrer Schreibtischschublade erwartete.
Tannenberg warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es blieben nur noch knapp fünf Minuten Zeit bis zum Beginn der von ihm um 13 Uhr anberaumten Dienstbesprechung. Mit einer Kopfbewegung forderte er seine junge Kollegin auf, ihm in sein Büro zu folgen.
Nur wenig später trafen auch Sabrinas Ehemann Michael, Kriminalhauptmeister Geiger und Karl Mertel im K 1 ein. Schauß und Geiger hatten den Morgen in Olsbrücken verbracht, wo sie wegen einer Wirtshausschlägerei Zeugenbefragungen durchführten. Deshalb besaßen sie gegenwärtig nur bruchstückhafte Informationen über die Geschehnisse an der Jammerhalde. Nachdem alle am Besprechungstisch Platz genommen hatten, brachte Tannenberg diese beiden Mitarbeiter auf denselben Kenntnisstand, den er bislang besaß. Dann bat er Sabrina und den Kriminaltechniker um deren aktuelle Ermittlungsergebnisse.
»Als du und der Doc weg waren, bin ich zu den Waldarbeitern gefahren«, begann Kommissarin Schauß. »Das sind vielleicht derbe, zotige Gesellen. Die sind ja noch schlimmer als Bauarbeiter. Ich bin mir vorgekommen wie bei einer Peepshow. Die haben mich mit ihren Blicken förmlich ausgezogen.«
»Kein Wunder, bei deiner Superfigur«, bemerkte Geiger lüstern. »Warum hast du ihnen denn auch keinen Wald-Striptease hingelegt?«
»Halt’s Maul, du geiler Sack!«, fuhr ihn Michael Schauß von der Seite her an. »Du hast mich heute Morgen schon genug genervt!«
Die beiden Kriminalbeamten hegten ein ziemlich angespanntes Verhältnis zueinander. Wegen Geigers sexistischer Anspielungen war Sabrinas Ehemann ihm schon mal an die Gurgel gegangen. Wenn irgendmöglich vermied Tannenberg, dass die Streithähne zusammenarbeiten mussten. Aber sein fähigster und belastbarster Mitarbeiter Adalbert Fouquet war in Urlaub und die Sache in Olsbrücken duldete nun mal
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