Jan Fabel 01 - Blutadler
Die bewaffneten MEK-Angehörigen stürmten in die Wohnung und richteten ihre Heckler & Koch-Maschinenpistolen auf die leere Fläche.
Fabel spürte sofort, dass niemand in der Wohnung war. Innerhalb von drei oder vier Minuten bestätigte das Team seine Vermutung.
»Scheiße!«, sagte Werner. »Wie konnte das bloß wieder passieren?«
»Weil wir in die andere Richtung geguckt haben«, antwortete Fabel.
»Ich hätte auf Anna hören und ein vollständiges Überwachungsteam auf den Dreckskerl ansetzen sollen.« Bei der Erwähnung ihres Namens tauschten die beiden Beamten einen fast verängstigten Blick aus.
»Frag mal beim Team nach, ob es Anna gefunden hat.«
Werner klappte sein Handy auf.
»Chef, komm und sieh dir das an.« Maria zeigte auf eine Art Abstellkammer neben dem Hauptwohnbereich. MacSwain hatte es geschafft, einen kleinen Computertisch und einen Stuhl in den winzigen Raum zu zwängen. Die Wände waren mit Fotos, Zeitungsausschnitten und handschriftlichen Notizen beklebt. Zwei Deckenscheinwerfer beleuchteten die Gegenstände, als wären sie Exponate in einem Museum. Den Mittelpunkt bildete eine geschnitzte Holzmaske. Es war eine recht genaue Nachbildung des Holzschnitts, den Fabel in Ottos Buch gefunden hatte. In dem Buch, das MacSwain ebenfalls besaß. Der bärtige Mund war nach Berserker-Art verzerrt, die leere Augenhöhle schwarz überschattet durch den Winkel, in dem die Strahlen der Deckenbeleuchtung einfielen.
Maria musste Fabel Platz machen, damit er die Kammer betreten konnte. Er stellte sich vor, dass die Tür verschlossen war, und Klaustrophobie legte sich drückend auf seine Brust. Dies war mehr als ein Raum, der einem speziellen Zweck diente. Er repräsentierte eine andere Dimension: eine Welt jenseits der Realität. Die Kammer und die geschlossene Tür waren für MacSwain wohl so uneinnehmbar wie eine Burg mit einer eisernen Zugbrücke, und hier ließ er sich in einem Universum alternativer Wahrheiten, Prinzipien und religiöser Überzeugungen nieder. Wie viel von diesem Universum MacSwain selbst heraufbeschworen hatte und wie viel Witrenkos Werk war, konnte Fabel nicht beantworten.
Etwas glänzte bronzegolden unter den Deckenscheinwerfern. Eine ovale Dienstmarke der Kriminalpolizei hing an einer geflochtenen Kette von einem Stift herunter. Diese Marke war der Schlüssel zu Angelika Blüms Vertrauen und damit zu ihrer Wohnung gewesen. Deshalb hatte sie ihren Mörder für Fabel gehalten.
Maria beugte sich vor und deutete auf einen Zeitungsausschnitt, der auf einen Stapel anderer geheftet war. »Mein Gott«, murmelte sie, »das bist du.«
Der Artikel war ein Jahr vorher aus der Hamburger Morgenpost ausgeschnitten worden. Fabels Foto war am Kopf von zwei Spalten über die Verhaftung von Markus Stümbke abgebildet. Stümbke hatte die Senatorin Lise Keimann terrorisiert und dann ermordet. Der Artikel war offensichtlich eine Ergänzung zu der Hauptstory, denn der Autor befasste sich, wie in der Überschrift angekündigt, gründlicher mit Fabels Herkunft und Karriere bei der Polizei Hamburg. MacSwain hatte einen Hinweis auf Fabels britisch-deutsche Eltern und auf die Tatsache unterstrichen, dass man ihn gelegentlich als »englischen Kommissar« bezeichnete.
Fabel warf einen Blick auf die übrigen Objekte. Fast alle waren der Mythologie und Geschichte der Wikinger gewidmet. Eine Karte Nordeuropas zeigte die von ihnen eingeschlagenen Routen: die Wolga hinunter ins Kerngebiet der Ukraine, an der Nordsee- und Ostseeküste entlang und, rot hervorgehoben, zur Küste Nordschottlands, wo sie sich nach ihren Überfällen häufig niedergelassen hatten. Mit seinem roten Filzstift hatte MacSwain ein dünnes, doch unzerreißbares Netz pervertierter Motive für seine Taten geschaffen.
»Fehlt da nicht etwas?«, fragte Fabel.
Maria nickte. »Bilder oder Details der Opfer. Es gibt keine Trophäen.«
»Genau.« Serienmörder, wusste Fabel, versuchen gewöhnlich, eine »Beziehung« zu ihren Opfern herzustellen, selbst wenn die Ermordung der erste Kontakt gewesen ist. Hier jedoch war kein Bezug zu erkennen: weder zu Ursula Kastner noch zu Angelika Blüm noch zu Tina Kramer. Es gab auch keine heimlich aufgenommenen Fotos der Opfer.
Es gab keine Kleidungsstücke. Es gab keine Trophäen. »Der Grund ist, dass er sich seine Opfer nicht selbst ausgesucht hat. Sie wurden für ihn ausgewählt. Das Objekt von MacSwains Besessenheit ist nicht das Opfer, sondern die Person, die ihn leitet. Sein geistiger
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