Jan Fabel 04 - Carneval
Vorarephilie und Kannibalismus.«
Fabel dachte an einen anderen gewöhnlichen Geschäftsmann mit einem geordneten, stabilen Leben, der versucht hatte, sein inneres Chaos zu unterdrücken. Bis er sich vor Fabels Augen das Gehirn aus dem Schädel geblasen hatte.
»Wie kommen Sie bloß darauf, dass etwas, das mit Kannibalismus, vor allem mit sexuellem Kannibalismus, zu tun hat, harmlos ist?«, fragte er.
»Ich will niemandem etwas Böses antun«, gab Schnaus matt zurück.
»Ich werde Ihnen verraten, warum wir hier sind, Herr Schnaus«, unterbrach Scholz. »Wir haben es mit einem absoluten Irren zu tun, der durch die Gegend läuft und Stücke aus Frauen herausbeißt. Außerdem könnte er mehrere ermordet haben. Das, mein Freund, scheint mir nicht gerade ein harmloses Vergnügen zu sein. Ich habe mir Ihre Website angesehen, und es wundert mich nicht, dass Sie all den Dreck von Ihrer Frau fernhalten wollen. Wenn sie über Ihr kleines Hobby Bescheid wüsste, wären sie und die Kinder wahrscheinlich sofort über alle Berge. Ich bin durchaus bereit, mir einen Durchsuchungsbefehl zu besorgen und Ihre Bude umzukrempeln. Es mag Ihr Wohnsitz sein, aber Ihre kleine Website wird von hier aus betrieben, und damit befindet sich Ihr Haus mitten in einer wichtigen Mordsache. Ich kann Ihnen versprechen, dass es hier morgen früh von Spurensicherern, uniformierten Polizisten und – wenn jemand indiskret genug wäre, ihnen einen Tipp zu geben – Reportern wimmeln wird.«
Schnaus wand sich. »Nein … bitte nicht … Ich werde tun, was Sie wollen, und Ihnen sämtliche Informationen überlassen, die Sie brauchen. Und ich verspreche, die Website zu schließen. Lassen Sie mich einfach wissen, was ich tun soll … Meine Frau und meine Kinder dürfen nichts erfahren.«
»Gut, aber eines wollen wir nicht, Herr Schnaus«, sagte Fabel. »Nämlich, dass Sie die Website schließen. Jedenfalls noch nicht.«
ZEHNTES KAPITEL
13.–14. Februar
1.
Maria rollte sich auf die Seite. Ein trockenes Würgen schüttelte ihren Körper; ihr geschrumpfter Magen wurde immer noch von Krämpfen gequält. Mit gesenktem Kopf erhob sie sich auf Knie und Ellbogen. Sie spürte Schmutz auf ihrer Haut und begriff, dass sie nackt war. In diesem Moment schwappte die intensive Kälte wie eine eisige Welle über sie hinweg. Dann traf sie eine zweite Welle, so brutal wie die Kälte: unverhülltes Entsetzen. Witrenko. Sie konnte es nicht glauben: Taras Buslenko war Wassil Witrenko.
Sie hatte recht gehabt: Seine Augen waren das Einzige, was er nicht hatte verändern können. Dennoch war es ihm gelungen, ihr weiszumachen, ein im Auftrag der ukrainischen Regierung handelnder Beamter zu sein. Aber er war sich treu geblieben: Witrenko wollte bei den Morden dabei sein. Und es machte ihm Spaß, vorher Psychospiele mit seinen Opfern zu veranstalten. Mit ihr hatte er von Beginn an gespielt. Nun war die Endphase gekommen.
Sie versuchte herauszufinden, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Vor Kälte bebend, betrachtete sie ihre Arme und entdeckte mehrere Einstiche. Die beiden hatten sie für Stunden oder Tage oder sogar Wochen außer Gefecht gesetzt. Sie rappelte sich zu einer sitzenden Stellung auf, zog die Knie hoch an die Brust und umklammerte sie mit den Armen. Die Krämpfe, die durch ihren Körper zuckten, waren mehr als ein reines Zittern. Es waren schwere, die Muskeln durchdringende Erschütterungen. Ihre geschrumpelte nackte Haut hatte jegliche Pigmentierung verloren. Sie war nicht mehr weiß, sondern sah aus wie Milchglas mit einer Kobalttönung. Es stimmt also, dachte Maria bitter, man wird wirklich blau vor Kälte. Sie sah sich in ihrer Zelle um. Sogar die Beleuchtung war kalt. Eine von einem Drahtgehäuse umschlossene Neonröhre strahlte ein steriles, freudloses Licht aus. Kein Fenster. Kein Geräusch. Es konnte jede Tages- oder Nachtzeit sein. Das wichtige erste Stadium der Verhörfolter war erreicht: die völlige Desorientierung des Opfers.
Sie hatten Maria offensichtlich in den Kühlraum der stillgelegten kleinen Fleischverpackungsfabrik gebracht, die Buslenko – nein, Witrenko – im Stadtteil Raderberg angemietet hatte, und die Anlage in Betrieb gesetzt. Es war der Kühlraum, der laut Buslenko … nein, laut Witrenko … nicht mehr funktionierte. War es von Anfang an geplant gewesen, dass er sie hier töten würde? Maria hielt in der Kammer Ausschau nach irgendeinem Stofffetzen, mit dem sie ihre Nacktheit bedecken und das Tempo, mit dem ihre
Weitere Kostenlose Bücher