Jan Fabel 04 - Carneval
eine Frau, die nichts mit der allgemeinen Stimmung des Abends anfangen kann. Egal, was sie aus ihrem Körper gemacht hat und wie aggressiv sie auftritt: Andrea Sandow bleibt Vera Reinartz. Ein gebrochenes Wesen.« Fabels Augen richteten sich wieder auf die Straße.
»Was ist?«, fragte Tansu.
»Dort drüben … Der Mann …« Fabel nickte zu einer Gestalt hinüber, die auf dem Bürgersteig vor Andreas Wohnung stand. Der Mann spähte ebenfalls zu dem erleuchteten Fenster hinauf und wirkte umso auffälliger, als er kein Karnevalskostüm trug. »Ich bin ihm schon mal begegnet.«
»Richtig«, bestätigte Tansu. »Das ist Ansgar Hoeffer, Küchenchef in der ›Speisekammer‹. Er hat vor dem Café herumgelungert, als wir zum ersten Mal mit Andrea gesprochen haben. Das kann kein Zufall sein.«
Sie beobachteten Ansgar, der die Straße überquerte und sich dem Eingang von Andreas Mietshaus näherte.
»Ich glaube, wir sollten mit ihm reden.« Fabel legte die Hand auf den Türgriff. Sie waren gerade ausgestiegen, als eine Schar von Feiernden auf das Auto zustürmte. Tansu und Fabel drängten sich durch die Menge, doch eine wuchtige Dame schnappte ihn und drückte ihm unter dem Jubel ihrer Gefährtinnen einen Kuss auf die Lippen.
»Durchlassen!«, brüllte Fabel. »Polizei!«
Trotzdem blieb er im Gewimmel stecken. Er sah, dass Ansgar sich umgedreht und Fabel, wie seine erschrockene Miene verriet, erkannt hatte. Mist, dachte Fabel, er wird weglaufen. »Herr Hoeffer!«, rief er über die Schulter eines dickleibigen Schneewittchens, das ihm den Weg versperrte. Hoeffer rannte auf das Ende der Straße zu, während Fabel und Tansu sich durch die Menge schoben.
»Bleiben sie hier«, befahl er. »Fordern Sie Hilfe an, aber bleiben Sie hier und beobachten Sie Andrea.« Fabel stürmte die Straße entlang, doch hinter der Ecke sah er sich einer weiteren Ansammlung feiernder Menschen gegenüber. Er blieb jäh stehen und ließ den Blick über die Menge schweifen. Nur weil Ansgar hutlos war und Alltagskleidung trug, entdeckte Fabel ihn, als er sich einen Weg durch das Gewühl bahnte. Fabel sprintete hinter ihm her, stieß jedoch mit einer Fleischwand zusammen. Er stieß mehrere Passanten grob zur Seite und hörte die eine oder andere höhnische Bemerkung.
»Polizei!«, schrie er immer wieder in die gesichtslose Menge hinein. Er hatte das Gefühl, im kollektiven Wahnsinn untergetaucht zu sein. Plötzlich prallte er auf etwas Massives. Vor ihm stand eine mehr als zwei Meter große, gut 120 Kilo schwere Ballerina mit Bart. Die Ballerina packte Fabel am Jackenkragen.
»Warum so eilig?«, dröhnte ihr Bariton. »Willst du etwa allen den Spaß verderben?«
Fabel hatte keine Zeit für Erklärungen und rammte das Knie ins Ballettröckchen der Ballerina, die seine Jacke sofort losließ. Er drängte sich durch das Gewühl und sah, wie Ansgar um die nächste Ecke rannte. Die kalte Luft schien Fabels Lunge auszutrocknen, während er in die Nachbarstraße einbog. Er überlegte, ob er sich über Funk melden sollte, doch ohne Tansu konnte er seinen Standort nicht bestimmen. Fabel fand sich in einer dunklen, stillen Seitenstraße wieder. Sie war gerade so breit, dass Autos auf einer Seite parken konnten, wodurch eine Spur für den Einbahnverkehr frei blieb. Fabel blieb stehen. Er hatte sich Ansgar so weit genähert, dass dieser keine Zeit gehabt haben konnte, das andere Straßenende zu erreichen. Er musste sich irgendwo verstecken. Fabel schritt die Fahrbahn entlang und spähte in die Zwischenräume zwischen den geparkten Autos.
»Geben Sie auf, Herr Hoeffer«, rief er atemlos. »Wir wissen, wer Sie sind, und wir werden Sie ausfindig machen. Ich möchte doch nur mit Ihnen reden.«
Schweigen.
»Bitte, Herr Hoeffer. Es hat doch keinen Zweck …«
Ungefähr zehn Meter weiter, zwischen zwei geparkten Wagen, erhob sich eine dunkle Gestalt.
»Ich habe es nicht böse gemeint.« Ansgars Stimme war hoch und eindringlich. »Wirklich nicht. Sie hat es mir schon einmal erlaubt. Ich wollte doch nur wieder … Ich bin krank.«
Fabel trat langsam auf ihn zu und nahm ein Paar Handschellen von seinem Gürtel. »Wir können darüber sprechen, Herr Hoeffer. Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen. Um es zu verstehen. Aber Sie müssen mit mir kommen. Das sehen Sie doch ein?« Fabel schob sich zwischen die Autos. Etwas blitzte auf. Scharfer Stahl funkelte, als Ansgar einen Gegenstand aus seiner Manteltasche holte. Fabel wollte seine Pistole ziehen, doch sie war
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