Jan Fabel 04 - Carneval
schaffen machte. Er wusste, dass sie ihr Bestes tat, damit ihr Zorn über ihn nicht erneut den Siedepunkt erreichte. Susanne stammte aus München und war kulturell nach Süden und zum Mittelmeer orientiert. Häufig beneidete Fabel sie um die Fähigkeit, ihre Emotionen überkochen zu lassen und dadurch die Flamme unter ihnen zu löschen. Fabel dagegen war sich seiner doppelt nördlichen Herkunft bewusst. Er nahm den Deckel nie ab, als hätte er es mit einem Dampfkochtopf zu tun.
»Was ist das?«, fragte Susanne und deutete auf das Flugblatt, das auf dem Tisch lag. Fabel erzählte kurz von seiner Begegnung mit dem ukrainischen Protestler auf dem Jungfernstieg vor dem Alsterhaus.
»Oh … Ja, ich habe die Leute gesehen, aber natürlich nicht gewusst, dass es Ukrainer waren. Du weißt ja, dass ich mich einfach vorbeidrängele, wenn ich glaube, dass mir etwas verkauft werden soll.«
»Ausgerechnet Ukrainer«, sagte Fabel düster. »Warum haben so viele Ukrainer so auffällige Augen? Sehr blass, hellblau und hellgrün?«
»Das dürfte an ihren Genen liegen. Hast du nicht einmal erwähnt, dass in den Adern der Ukrainer eine Menge Wikingerblut fließt?«
»Mmm …« Fabel versuchte offensichtlich immer noch, seine verworrenen Gedanken zu ordnen. »Es ist einfach etwas, das ich bemerkt habe. Und natürlich …« Er brach ab.
»Witrenko?«, fragte Susanne mit einem Seufzen. »Jan, ich dachte, du hättest diesen Geist gebannt.«
»Habe ich auch. Er ist mir bloß eingefallen, nachdem ich draußen auf den Ukrainer gestoßen bin.« Um keine weitere Auseinandersetzung heraufzubeschwören, ließ er das Thema fallen und sprach stattdessen davon, dass er seine Mutter am kommenden Wochenende besuchen würde. Es sei schade, dass Susanne, die seine Mutter gern mochte, ihn nicht begleiten könne.
Doch bei diesen Worten musste er mit Unbehagen an das Gespräch denken, das er gerade mit Maria geführt hatte. Er nahm sich vor, sie nach seiner Rückkehr aus Ostfriesland aufzusuchen. Egal, was Dr. Minks verordnet haben mochte.
Nach dem Mittagessen machten sie einen kurzen Spaziergang vom Alsterhaus zu Otto Jensens Buchladen in den Arkaden. Otto hatte sie zu einer Buchpräsentation am Nachmittag eingeladen. Seit dem Studium war er einer von Fabels engsten Freunden. Hochgewachsen, dürr und eine der ungeschicktesten Personen, die Fabel kannte, verfügte er gleichwohl über einen messerscharfen Intellekt. Otto liebte Bücher, und sein Laden war wahrscheinlich die erfolgreichste unabhängige Buchhandlung der Stadt. Aber Fabel dachte oft, dass sein Freund auch auf anderen Gebieten sehr viel hätte erreichen können.
Otto begrüßte sie munter, um ihnen dann mit leiser Stimme mitzuteilen, dass das Buch, das gleich vorgestellt werden sollte, äußerst langweilig sei. »Das konnte ich euch nicht vorher sagen«, erklärte er, »denn dann wäret ihr nicht gekommen. Tut mir leid, aber ich brauche euch, damit es hier nicht ganz so leer aussieht.«
»Wofür sind Freunde da?«, meinte Fabel.
»Der Wein ist diesmal gar nicht so schlecht. Als halber Schotte und halber Friese bist du für ein kostenloses Getränk doch bestimmt zu allem bereit.«
Otto hatte nach dem Ereignis einen kleinen Empfang für den Autor und ein paar Gäste arrangiert. Sie standen in Gruppen herum, tranken Wein und plauderten miteinander. Susanne und Ottos Frau Else, die eine enge Freundschaft angeknüpft hatten, waren in ein Gespräch über jemanden vertieft, den Fabel nicht kannte, als Otto ihn am Ellbogen nahm und mit sich zog.
»Es gibt jemanden, den du kennenlernen solltest«, sagte Otto.
»Bloß nicht den Autor«, flehte Fabel. Die Lesung und der Verfasser waren genauso ermüdend gewesen, wie Otto es angekündigt hatte.
»Nein. Natürlich nicht. Es geht um jemanden, der erheblich interessanter ist.«
Otto führte Fabel durch den Raum zu einem kleinen Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Er war mit einem beigen Leinenanzug bekleidet, der aussah, als wäre er seit einer Woche täglich getragen worden, ohne auch nur ein einziges Mal gebügelt worden zu sein. »Das ist Kurt Lessing«, stellte Otto ihn vor. Der Mann in dem zerknitterten Anzug streckte seine Hand aus. Er hatte ein intelligentes Gesicht von einer gewissen Attraktivität, die sich jedoch hinter einer zu großen, seit Langem nicht geputzten Brille verbarg. »Ich muss dich warnen. Kurt ist ganz schön verrückt. Aber es macht Spaß, sich mit ihm zu unterhalten.«
»Schönen Dank für die freundlichen
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