Jan Fabel 04 - Carneval
Worte«, sagte Lessing. Er lächelte Fabel an, doch seine Aufmerksamkeit richtete sich sofort auf Susanne, die sich ihnen angeschlossen hatte. Er verneigte sich halb und hob ihre Hand an seine Lippen. »Es ist mir ein Vergnügen«, versicherte er und grinste sie lüstern an. Fabel musste über die bewusst übertriebene Zurschaustellung seines Interesses lachen. »Sie sind außergewöhnlich schön, Frau Dr. Eckhardt.«
»Vielen Dank«, erwiderte Susanne.
»Ich darf darauf hinweisen«, sagte Otto, »dass dies selbstverständlich klingen mag, aber in Wirklichkeit eine ganz große Ehre ist. Du musst nämlich wissen, Susanne, dass Kurt als einer der international führenden Experten für weibliche Schönheit gilt.«
»Wirklich?« Susanne betrachtete Lessing skeptisch.
»In der Tat«, bestätigte Lessing mit einer weiteren kleinen Verbeugung. »Ich habe ein Standardwerk darüber geschrieben, wie sich das Ideal weiblicher Schönheit in den unterschiedlichen Kulturen im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat. Das ist mein Spezialgebiet.«
»Sie sind Autor?«, fragte Fabel.
»Ich bin Anthropologe«, antwortete Lessing, ohne die Augen von Susanne abzuwenden. »Und nebenbei Kunstkritiker.« Endlich sah er Fabel an. »Ich untersuche die Anthropologie der Kunst und der Ästhetik. Mein Buch beschreibt, wie sich unser Schönheitsideal im Lauf der Zeit gewandelt hat.«
»Hat es sich denn so sehr geändert?«, fragte Susanne. »Das interessiert mich. Ich bin Psychologin.«
»Also Schönheit und Intelligenz. Die Menschen haben sich während ihrer gesamten Entwicklungsgeschichte für beides interessiert. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ja, das Schönheitsideal hat wirklich radikale Veränderungen erfahren. Besonders faszinierend ist, dass sich unser Ideal von der weiblichen Schönheit im letzten Jahrhundert schneller verändert hat als zu jeder anderen Zeit der Menschheitsgeschichte. Dabei haben die Massenmedien unzweifelhaft eine Schlüsselrolle gespielt. Man braucht nur die Leinwandsirenen der Vierziger und Fünfziger mit den stockdünnen Models der Gegenwart zu vergleichen. Ausgesprochen erstaunlich finde ich, dass über einen gewissen Zeitraum unterschiedliche Schönheitsideale gleichzeitig innerhalb derselben Kultur verbreitet sein können.«
»Wie meinen Sie das?«, wollte Susanne wissen.
»Kein Mann findet die dürren Laufstegmodels attraktiv. Sie entsprechen lediglich einer weiblichen Definition von Schönheit. Das Gebot, dünn zu sein, ist eine seltsame Tyrannei, die Frauen über Frauen ausüben. Das, was die Geschlechter voneinander unterscheidet, macht das eine für das andere attraktiv. Männer lieben Kurven, Frauen lieben Kanten.«
»Aber das widerspricht Ihrer vorherigen Aussage«, wandte Fabel ein. Langsam wurde er der Aufmerksamkeit des kleinen Mannes für Susanne überdrüssig. »Sie haben gesagt, das weibliche Schönheitsideal habe sich im Lauf der Jahrhunderte geändert.«
»Stimmt, aber innerhalb bestimmter Grenzen. Wenn Sie sich das klassische Schönheitsideal in der griechischen oder römischen Bildhauerei anschauen, so werden Sie feststellen, dass es weitgehend mit dem Ideal der Fünfzigerjahre übereinstimmt. Dann folgte eine Konzentration auf den großen Busen. In der Kunst der Renaissance hingegen waren Brüste immer klein und fest. Damals brachte man den großen Busen mit Ammen in Verbindung, also mit Frauen aus unteren Schichten, die Babys für vermögendere Mütter stillten, damit diese ihre Figur behalten konnten. Es hat radikale Schwankungen in der Mode gegeben, am extremsten zu sehen an den fast fettleibigen Modellen von Tizian. Aber im Allgemeinen bewegen sich die unterschiedlichen Ideale in einem gewissen Rahmen.«
Fabel dachte an die ermordeten Frauen in Köln, die vollere Hüften und Gesäße gehabt hatten.
»Was ist mit Gesäßen?«, fragte er. »Gibt es da auch modebedingte Vorlieben?«
»Im neunzehnten Jahrhundert war man offensichtlich davon besessen. Die Tournüre betonte das Hinterteil auf extreme, unnatürliche Weise. Normalerweise hatten Hüften und Gesäß jedoch stets die Aufgabe, die Schmalheit der Taille hervorzuheben. Und genau das war auch der Zweck der Tournüre. Es kommt nicht auf einen einzelnen Körperteil an, sondern auf sein Verhältnis zu den anderen Teilen. Alle dicken Frauen haben einen großen Hintern, doch Fettleibigkeit ist nicht attraktiv. Männer, die von größeren Gesäßen angezogen werden, haben meistens den Kontrast zu einer schmalen Taille im Auge.
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