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Jan Fabel 04 - Carneval

Titel: Jan Fabel 04 - Carneval Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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war es Adam, der neunzehnjährige Lehrling. In dem eifrigen und fleißigen Adam hatte Ansgar einen Schüler gefunden, dem er das geheiligte Wissen des Chef de cuisine vermitteln konnte.
    Er hatte die Maschinerie für das Mittagessen in Bewegung gesetzt. Jeder Angestellte machte sich an die Vorbereitungsarbeiten. Ansgar nahm Adam beiseite, um seinen Protegé auf ein neues Niveau der kulinarischen Kunst zu führen.
    »Ich möchte, dass du den Wildschweinschinken zubereitest. Er soll heute Mittag auf der Speisekarte stehen.«
    »Ja, Chef«, erwiderte Adam bereitwillig. Ansgar hatte ihm gestattet, die Wildschweinkeule anzurichten. Er hatte die Beschichtung aus Kräutern, Gewürzen und Senf genau nach Ansgars Geheimrezept sorgsam angerührt und sie in das Fleisch eingerieben. Seit einem Monat ruhte die Keule mariniert und gepökelt in dem großen Lagerungskühlschrank. Adam holte den Wildschweinschinken aus dem Kühlschrank und legte ihn auf das Tranchierbrett.
    »Wir werden erst eine Scheibe nach der anderen abschneiden, wenn Bestellungen eingehen«, sagte Ansgar. »Aber ich möchte, dass du vorher mit ein oder zwei Scheiben übst. Außerdem habe ich vor, dazu einen Salat zu servieren. Ich hoffe, du kannst mir etwas Geeignetes vorschlagen.«
    Adam runzelte die Stirn. »Also …«
    »Nein, noch nicht. Erst möchte ich, dass du das Fleisch zerschneidest. Sieh dir seine Struktur an, seine Beschaffenheit.«
    Adam nickte, hielt die Keule mit der Tranchiergabel fest und setzte das Messer an.
    »Warte«, sagte Ansgar geduldig. »Ich möchte, dass du gründlicher über die Sache nachdenkst. Nicht nur darüber, wie dick oder dünn die Scheiben sein sollen. Denk an das Tier, von dem das Fleisch stammt. Schließ die Augen und stell es dir vor.«
    Adam wirkte eine Sekunde lang verlegen, schloss dann jedoch die Augen.
    »Hast du es vor dir?«
    »Ja. Einen Wildeber.«
    »In Ordnung. Nun denk darüber nach, wo er im Wald nach Futter gestöbert hat. Überleg dir, welche Gestalt er hatte und wie schnell er rennen konnte. Halte das Bild einen Moment lang fest. Siehst du es?«
    »Ja.«
    »Schön. Nun öffne die Augen und fang an zu schneiden. Dann sag mir, ohne weiter nachzudenken, welchen Salat ich dazu servieren soll.«
    Adam trennte eine perfekte Schinkenscheibe von der Keule ab, legte sie auf den Teller und blickte Ansgar strahlend an. »Dazu sollten wilde Pilze, Fenchel, Orange und Rukolasalat gereicht werden.«
    »Verstehst du? Versteht du, was passiert, wenn du nicht nur an das Gericht … sondern an das lebende Fleisch denkst? Dadurch kannst du ein großartiger Koch werden, Adam. So kannst du das Wesen der Speisen durchschauen, die du servierst.«
    Bei diesen Worten warf Ansgar durch die Küche hindurch einen verstohlenen Blick auf Jekaterina.
    12.

    Fabel wollte sich als Erstes einen Rollkragenpullover kaufen, weshalb er sich zum Alsterhaus am Jungfernstieg aufmachte. Einkäufe im Alsterhaus waren ein Luxus, den er sich vielleicht ein wenig zu oft leistete, doch es machte ihm Spaß, durch die Etagen zu streifen und sich einen kleinen Imbiss im Fromage&Bistro im obersten Stockwerk zu gönnen. Er hatte beschlossen, zu Fuß in die Stadt zu gehen, denn die Vorhersage, dass der Morgen schön werden würde, war eingetroffen. Die graue Wolkendecke hatte sich aufgelöst, und der Himmel strahlte in einem kalten, hellen Blau.
    Während er sich dem Jungfernstieg näherte, hörte er Musik. Fabel bemerkte etwa ein Dutzend Männer und Frauen, die in einer ihm fremden Sprache sangen. Doch man brauchte die Worte nicht zu verstehen, um zu wissen, dass das Lied von Schmerz und Sorge handelte. Der Chor stand auf dem breiten Bürgersteig ein paar Meter vor dem gewölbten Art-deco-Eingang des Alsterhauses. Drei Männer von slawischem Äußeren versuchten wie Angler in einem Strom, die Aufmerksamkeit der Passanten zu ködern. Einer von ihnen trat auf Fabel zu.
    »Wir sammeln Unterschriften, mein Herr. Haben Sie vielleicht einen kleinen Moment Zeit?«
    »Ich bin leider …«
    »Entschuldigung, ich will Sie nicht aufhalten. Aber wissen Sie etwas über den Holodomor?« Der Mann richtete seinen ruhigen, wachen Blick auf Fabel. Diesem fielen die stechenden blauen Augen des Slawen auf, die so kalt waren wie der Winterhimmel über ihnen. Es war wie ein Schlag in die Magengrube, als er an einen anderen Slawen mit durchdringend hellgrünen Augen dachte.
    »Sind Sie Ukrainer?«, fragte Fabel.
    »Ja.« Der Mann lächelte. »Der Holodomor war der bewusste

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