Jan Fabel 04 - Carneval
Völkermord an meinen Landsleuten, den die Sowjetunion unter Stalin begangen hat. Sieben bis zehn Millionen Ukrainer sind umgekommen. Ein Viertel der Bevölkerung. Sie wurden zwischen 1932 und 1933 von den Sowjets in den Hungertod getrieben.« Er klappte den Ordner auf, den er unter seinem Klemmbrett festgehalten hatte. Der Ordner war mit körnigen Schwarz-Weiß-Fotos von menschlichem Elend gefüllt: abgemagerte Kinder, auf der Straße liegende Leichen, riesige Massengräber mit spindeldürren Körpern. Die Aufnahmen erinnerten Fabel an diejenigen, die er in seiner Jugend über den Holocaust gesehen hatte. »Täglich starben 25 000 Ukrainer. Außerhalb der Ukraine weiß praktisch niemand etwas vom Holodomor. Sogar in unserer Heimat konnten wir erst nach der Unabhängigkeit offen darüber sprechen. Russland weigert sich immer noch zuzugeben, dass der Holodomor ein Akt des geplanten Völkermords war. Die Regierung behauptet, er sei auf die misslungene Kollektivierung durch Stalins Kommissare zurückzuführen.«
»Und Sie bestreiten das?«, fragte Fabel. Er schaute auf seine Uhr, um nachzusehen, wie viel Zeit er noch bis zu seinem Treffen mit Susanne im Obergeschoss des Alsterhauses hatte.
»Es ist eine unverschämte Lüge«, fuhr der Mann unbeirrt fort. »Überall in der Sowjetunion sind Menschen durch Stalins Kollektivierungswahnsinn verhungert. Das stimmt. Aber im Jahre 1927 hatten wir begonnen, unser Land zu ukrainisieren. Wir machten Ukrainisch anstelle von Russisch zur Amtssprache. Stalin hielt uns für eine Bedrohung und versuchte, uns durch Nahrungsentzug zu vernichten. Mehr als 25 Prozent der ukrainischen Bevölkerung wurden ausgelöscht. Bitte, Ihre Unterschrift wird uns helfen, dieses Verbrechen als das einstufen zu lassen, was es war: als Völkermord. Die deutsche und die britische Regierung und andere müssen dem spanischen Beispiel folgen und den Holodomor offiziell als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennen.«
»Es tut mir leid. Ich weigere mich nicht, Ihre Aktion zu unterstützen, aber ich kann die Erklärung erst unterschreiben, wenn ich mehr über die Ereignisse weiß. Ich muss erst einmal mehr darüber herausfinden.«
»Das verstehe ich.« Der Ukrainer reichte Fabel ein Flugblatt. »Hier erfahren Sie, wo Sie ausführlichere Informationen bekommen können. Nicht nur über unsere Organisation. Aber wenn Sie das alles gelesen haben, dann besuchen Sie bitte unsere Website und setzen Ihren Namen dort auf die Liste.«
Als Fabel von dem Flugblatt aufblickte, zog der Ukrainer bereits einen weiteren Passanten aus dem Strom auf dem Bürgersteig.
Fabel begab sich ins oberste Stockwerk des Alsterhauses. Susanne war noch nicht eingetroffen, deshalb holte er sich einen Kaffee und ließ sich in dem Restaurant an der Rolltreppe nieder, von wo er ihren Treffpunkt im Auge behalten konnte. Er warf einen Blick auf das Flugblatt, das ihm der Ukrainer gereicht hatte. Fabel kannte den Begriff Holodomor nicht, doch er hatte von der großen Hungersnot in den Dreißigerjahren gehört. In den Achtzigern hatte der ukrainische Serienmörder Andrej Tschikatilo diese als einen der Gründe für seinen Kannibalismus genannt. Sein Bruder war von verhungernden Dorfbewohnern ermordet und gegessen worden, doch all das hatte sich vor Tschikatilos Geburt abgespielt. Ein Detail, das die Unterschriftensammler verständlicherweise in ihrem Text nicht erwähnten, war die Tatsache, dass der Holodomor zum Massenkannibalismus geführt hatte. Die Sowjetbehörden hatten Sondergerichte eingesetzt, um Personen, die Menschenfleisch verzehrt hatten, aburteilen und hinrichten zu lassen.
Verzweifelte Eltern hatten, wenn ihnen ein Kind starb, eine geheime Grabstätte finden müssen, denn es kam sehr häufig vor, dass Leichen ausgegraben und verspeist wurden. Schlimmer noch: In vielen Fällen hatten Eltern sogar ihre eigenen Kinder umgebracht und gegessen. Auch in der Gegenwart gab es in der Ukraine noch immer eine ungewöhnlich hohe Zahl von kannibalisch motivierten Serienmorden.
Doch für Fabel war die Ukraine vor allem eines: die finstere Wiege, aus der Wassil Witrenko gekrochen war. Vielleicht lag es an dem Gedanken an Witrenko, dass Fabel sein Handy hervorholte und Maria Klee anrief. Das Telefon klingelte ein paarmal, bevor sich der Ton änderte und er zu Marias Handy umgeleitet wurde. Ihre Stimme klang ausdruckslos und matt.
»Maria? Hier ist Jan. Ich möchte nur wissen, wie es dir geht. Störe ich dich gerade?« Fabel hatte gedacht,
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