Jan Fabel 04 - Carneval
jede Unternehmensstruktur, doch so, dass es den Angehörigen jeder Ebene möglich war, ohne Wissen um die über oder unter ihnen liegende Stufe zu operieren. Sogar auf derselben Organisationsebene wurden häufig »Zellen« ohne Kenntnis voneinander eingesetzt. Jeder Zelle stand ein pachan oder Boss vor, der seine Befehle von einem brigadir – dieser leitete bis zu zehn pachany – empfing. Die Fußsoldaten wussten nie, wer der brigadir war, der ihnen seine Anweisungen durch den pachan übermittelte. Außerdem wurden freiberufliche Spezialisten herangezogen, die der Organisation nur zeitweilig angehörten und häufig weder Ukrainer noch Russen waren. Das bedeutete, dass sich die ukrainische Mafia in ihrer Struktur völlig von der italienischen unterschied. Auch war es unendlich schwerer als im Fall ihres italienischen Gegenstücks, Nachforschungen anzustellen und Anklage zu erheben.
Maria brauchte jedoch keine Beweismittel zu finden. Sie war nicht daran interessiert, Material zusammenzutragen, sondern nur daran, Witrenko aufzuspüren.
Sie legte eine weitere Akte zu den anderen Gegenständen. Ein Gesicht schaute aus einem Militärdienstfoto hervor: Oberst Wassil Witrenko, früher Mitglied des Berkut, der ukrainischen Antiterrorpolizei. Maria hatte dieses Gesicht so oft angestarrt, dass es die Macht verloren haben sollte, ihr den Magen umzudrehen. Doch davon war keine Rede. Wann immer sie die hellgrünen ukrainischen Augen, die hohen, breiten Wangenknochen und die von dichtem butterblondem Haar umrahmte Stirn ansah, fühlte sie ein Stechen knapp unter dem Brustbein. Dort war ihre Narbe.
Natürlich mochte Witrenko mittlerweile ganz anders aussehen. Turtschenko, der Ermittler, der auf der Fahrt nach Köln ermordet worden war, hatte keinen Zweifel daran gehabt, dass Witrenko sein Äußeres grundlegend, wahrscheinlich durch kosmetische Chirurgie, umgemodelt hatte. »Aber die kannst du nicht ändern«, sagte Maria zu dem Foto. »Deine Augen kannst du nicht ändern.«
5.
Die Bar war schwach beleuchtet, und im Hintergrund wurde Annett Louisan gespielt. Die Ausstattung war auffällig chic, die Kundschaft gut betucht und das Getränkeangebot teuer. Oliver hatte keinen Zweifel daran, dass die Sache ihn ein Vermögen kosten würde, bevor sie auch nur die Bar verlassen hatten. Er saß auf einem Hocker, stützte sich auf den Tresen, trank einen mit weißem Rum gemixten Cocktail und betrachtete sein Spiegelbild in dem Rauchglas hinter der Bar. Er hatte ein wissendes Lächeln aufgesetzt. Die Dinge waren nie so, wie sie zu sein schienen; Menschen waren nie, wer sie zu sein schienen. Oliver sah gut aus; seine Kleidung war so modisch und teuer wie die der anderen Besucher; auch war er intelligent und gebildet – ein geachteter Spezialist mit einem ausgezeichneten Einkommen. Seit seiner Ankunft in der Bar hatte er die Blicke mehrerer attraktiver Frauen auf sich gezogen. Kaum jemand hätte verstehen können, dass er sich hier mit einer Prostituierten verabredet hatte. Aber Oliver störten die Gründe nicht, aus denen er sich in dieser Situation befand. Seine Bedürfnisse waren spezifisch .
Er dachte einen Moment lang darüber nach, während Annett Louisan einen intensiv gehauchten Ton sang. Oliver hatte nie quälende Stunden mit dem Versuch verbringen müssen, eine unterschwellig erotische Begegnung ausfindig zu machen, die seine »Vorliebe« erklärte. Alles war so eindeutig freudianisch: eine Cousine, ein besonders schwüler Sommer am Meer und ein einziger Augenblick, in dem er begriffen hatte, was es bedeutet, ein Geschöpf des Fleisches zu sein.
Olivers Cousine Sylvia war zwei Jahre älter als er. Sie hatte zum größeren Familienkreis gehört, doch da sein Onkel und seine Tante fern an der Küste wohnten, hatte er sie in seiner Kindheit kaum wahrgenommen. Als Erstes – in seinem vierzehnten und ihrem sechzehnten Lebensjahr – waren ihm ihre Kurven aufgefallen. Sylvia hatte eine volle, doch nicht dicke Figur gehabt: üppig, aber straff und von kräftiger, geschmeidiger Sportlichkeit. Sie war die Tochter des Bruders von Olivers Mutter, hatte jedoch keine Ähnlichkeit mit seinem Familienzweig erkennen lassen, da sie das rotblonde Haar und die sommersprossige Haut ihrer Mutter geerbt hatte. Sylvia, abenteuerlustig und robust, hielt sich gern im Freien auf, doch ihre Weiblichkeit war mittlerweile so unübersehbar, dass niemand sie als jungenhaften Wildfang eingeschätzt hätte. Trotz ihrer natürlichen Blässe hatte Sylvias
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