Jan Fabel 04 - Carneval
eine alte Schulfreundin aus Hannover, die inzwischen in Köln wohnte und mit der Maria weiterhin regelmäßig Kontakt hielt. Sie wusste Bescheid über Marias Probleme und hatte sie stets fürsorglich unterstützt. Nun bot sie Maria eine Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen und ein paar Tage mit ihr in Köln zu verbringen. Maria hatte zunächst dankend abgelehnt. Für das, was sie plante, brauchte sie mehr als eine kurze Ruhepause in Köln.
Dann waren die Dinge plötzlich ins Lot geraten: Liese hatte angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie aus beruflichen Gründen überraschend für drei Monate nach Japan reisen müsse und sich Sorgen mache, dass ihre Wohnung so lange leer stehen würde. Ob Maria ihr einen Gefallen tun und dort vorübergehend einziehen könne? Liese wusste, dass ihre Freundin einen Tapetenwechsel benötigte, und dies schien das ideale Arrangement zu sein. Aber Liese hatte es ein wenig seltsam gefunden, als Maria sie bat, nur ihre unmittelbaren Nachbarn über die Vereinbarung zu unterrichten, und zwar ohne Namensnennung. »Ich muss eine Weile anonym bleiben«, hatte Maria erklärt.
Die Wohnung lag im Belgischen Viertel in der Nähe eines der Tore, die einst zur alten Kölner Stadtmauer gehört hatten. Liese hatte Maria mitgeteilt, dass die Dresslers, die einzigen Nachbarn auf derselben Etage, ein junges Akademikerpaar ohne Kinder seien, das den ganzen Tag über auswärts arbeite und sich auch abends häufig nicht zu Hause aufhalte. In der Etage darunter wohnten zwei Familien und im Erdgeschoss ein junger Mann, dem Liese kaum je begegnete, sowie ein weiteres junges Akademikerpaar. Eine perfekte Zuflucht. Aber das allein genügte nicht, Maria brauchte mehr als einen Unterschlupf. Ohnehin würde Liese erst am Ende der Woche abreisen. Deshalb hatte Maria beschlossen, sich für ein paar Tage ein Zimmer in einem Billighotel zu nehmen. Vielleicht würde sie es sogar nach ihrem Einzug in die Wohnung noch eine Zeit lang behalten.
Maria zog ihren Laptop aus ihrer Aktentasche. Auf dem Bett sitzend, öffnete sie die Dateien, die sie aus der BKA-Datenbank heruntergeladen hatte. Als Mitglied der Hamburger Mordkommission hatte sie nur begrenzten Zugang zu der Datenbank, und die Informationen waren allgemeiner Art, doch sie genügten, um ihr einen Ausgangspunkt zu verschaffen.
Sie hatte sich sogar zu einem gemeinsamen Mittagessen mit einer Frau durchgerungen, die sie von der Landespolizeischule kannte und die nun Karriere beim Bundeskriminalamt gemacht hatte. Maria war der entsetzte Gesichtsausdruck ihrer Tischgefährtin nicht entgangen, als diese ihre Veränderung bemerkte. Es gelang Maria, von ihr zu erfahren, dass eine weit detailliertere Akte über Witrenko existierte, doch die BKA-Vertreterin hatte es abgelehnt, ihr weitere Einzelheiten zu verraten. Möglicherweise war sie besorgt wegen Marias Geisteszustand gewesen.
Maria wusste, dass sie nicht gesund war. Erst nach mehreren Sitzungen bei Dr. Minks war ihr klar geworden, dass ihr Verhalten seltsame Züge angenommen hatte. Sie hatte sich in eine Welt ungewöhnlicher Rituale und Zwangsvorstellungen geflüchtet, was ihren Blick auf das normale Leben verzerrte. Seit sie niedergestochen worden war, litt sie vor allem unter Aphenphosmphobie, einer krankhaften Furcht vor Körperkontakt mit anderen Menschen. Nach der im Horror endenden Affäre mit dem Mörder Frank war sie in eine schwere Depression gefallen und hatte zusätzlich eine Essstörung entwickelt.
Inzwischen konnte sich Maria kaum noch ohne ein Gefühl des Abscheus im Spiegel betrachten. Aber sie schaute häufig in den Spiegel. Von Selbstverachtung zerfressen, zog sie sich nackt aus und verharrte manchmal eine ganze Stunde lang vor einem Standspiegel. Sie starrte ihr Bild an und wünschte sich, jemand anders zu sein. Egal, wer. Dies war ein Teil des geistigen Chaos, durch das sie sich täglich durchkämpfen musste. Doch etwas von der alten systematischen, sorgfältigen, tüchtigen Maria war zurückgeblieben und hatte ihr ermöglicht, sich ein eigenes ausführliches Dossier anzulegen, bevor sie sich krankschreiben ließ.
An dem Tag, als sie hörte, dass der ukrainische Ermittler Turtschenko durch einen Autounfall ums Leben gekommen war, hatte sie beschlossen, so viele Informationen wie möglich über Witrenko und seine Organisation zu sammeln. Turtschenko, ein ruhiger, höflicher, hochintelligenter ehemaliger Anwalt, war auf Wassil Witrenkos Spur nach Hamburg gereist. Er hatte Maria gebeten, die
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