Jan Fabel 04 - Carneval
vorhanden ist. Zum Beispiel habe ich mich vor meiner Reise mit dem Holodomor beschäftigt: der Hungersnot, die die Sowjets den Ukrainern in den Dreißigerjahren aufzwangen. Die Lebensmittel wurden in der Ukraine so knapp, dass es zu relativ vielen Fällen von Kannibalismus kam.«
»Ich habe mal von Endokannibalismus und Exokannibalismus gehört. Was ist denn darunter zu verstehen?«, fragte Scholz.
»Exokannibalismus bedeutet, dass man einen Fremden isst. Beim Endokannibalismus ist das Opfer jemand aus dem eigenen Stamm oder der eigenen Kultur.«
»Endokannibalismus heißt also, dass es Oma zum Abendessen gibt«, meinte Scholz. »Aber all das ist doch wohl sehr selten, oder?«
»Nicht so selten, wie man annimmt. Wir alle haben so etwas zu irgendeinem Zeitpunkt unserer Geschichte getan, und zwar in jeder Kultur. Ritueller Bestattungskannibalismus kam schon in der Steinzeit in Europa vor.«
»Was ist das auf gut Deutsch?«
»Wenn ein Verwandter starb, fand eine Art Leichenschmaus statt, wobei es der Verblichene und vor allem sein Gehirn waren, die als Hauptgericht dienten. In archäologischer Hinsicht war es eine bedeutende Entdeckung. Denn daraus geht hervor, dass wir schon in der Steinzeit den Verstand – oder den Geist – mit dem Gehirn assoziierten. Enge Familienangehörige aßen also Teile des Gehirns, um etwas vom Geist ihres Vorfahren in sich aufzunehmen . Das ist auf vorwissenschaftliche Art einigermaßen plausibel. Und wenn du, auf gut Deutsch gesagt, Beweise dafür haben willst, dass Menschen einander essen, dann brauchst du nur ungefähr hundert Kilometer weiter zu fahren. Zu der Balver Höhle im Hönnetal. Dort haben Archäologen Spuren von Kannibalismus gefunden.«
»Aber was motiviert den Mann, eine so präzise Menge herauszuschneiden?«
Fabel wollte gerade antworten, als das Essen serviert wurde. »Das sieht gut aus«, sagte er. Das Lammragout mit seinem Feigen- und Gemüsedressing war kunstvoll auf dem Teller arrangiert worden. Er führte einen Bissen zum Mund. »Mmm … und es schmeckt auch gut. Eine ausgezeichnete Wahl, Benni.« Das Lamm zerging ihm auf der Zunge. Nach einer Weile fuhr Fabel fort: »Also, zu deiner Frage. Der Karnevalsmörder nimmt sich eine exakte Menge Fleisch, weil das die Portion ist, die er haben will. Etwa so, wie wir einen Metzgerladen betreten und ein Kilo Hack verlangen. Hinzu kommt, dass der Täter kein abstraktes Verhältnis zu Speisen hat.«
»Wie meinst du das?«
»Sieh dir diese Mahlzeit an«, erklärte Fabel. »Wir beide sitzen hier und essen Lammragout, aber das Wort ›Lamm‹ lässt in diesem Zusammenhang nur an eine Speise denken. Wir stellen uns kein junges Schaf vor und schon gar nicht, wie es geschlachtet, abgehäutet und ausgeweidet wird. Sogar in einem Metzgerladen sehen wir lediglich ein Stück Fleisch, ohne daran zu denken, dass es sich dabei um das Körperteil eines Tieres handelt. Und wenn man eine Kuh oder ein Lamm auf einer Wiese oder eine Ente auf einem Teich sieht, läuft einem nicht das Wasser im Mund zusammen, weil man sich wünscht: Oh, das würde ich gern probieren.«
»Tut mir leid«, warf Scholz mit vollem Mund ein. »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«
Fabel betrachtete Scholz’ halb leeren Teller und dachte, dass er weniger reden und mehr essen sollte. »Früher hatten wir eine direktere Beziehung zu unseren Speisen. Aber nun leben wir in einer Zeit, in der irgendeine exotische Bohne oder Beere oder sonstige Pflanze um die Welt geflogen wird, nur damit sie als Beilage zu einem Gericht dienen kann. Es ist schwer nachzuvollziehen, dass wir uns den größten Teil unserer Geschichte hindurch darauf konzentriert haben, einfach nur genug Nahrungsmittel zum Überleben an uns zu bringen. Hierzu gehört auch die Geschichte des Kannibalismus. Wie erwähnt, haben wir es alle getan. Jede Kultur der Welt hat Erfahrung mit dem Verzehr von Menschenfleisch. Trotzdem ist ein solches Verhalten weiterhin das größte gesellschaftliche und kulturelle Tabu.«
Scholz hob seine Gabel und musterte das damit aufgespießte Stück Lamm. »Wie es wohl schmeckt? Menschenfleisch, meine ich.« Er zuckte die Achseln und ließ das Ragoutstück in seinem Mund verschwinden.
»Es soll ähnlich wie Kalbfleisch schmecken. Oder wie Schweinefleisch«, antwortete Fabel. »Egal, unser Täter hat nicht die gleiche distanzierte Beziehung zu seiner Nahrungsquelle. Die Glieder in seiner Nahrungskette sind allzu konkret. Er sieht die Frauen, bewertet ihre Figur und
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