Jan Fabel 04 - Carneval
zwanzig sein, denn sonst hätte er nicht als Kommissar in der Mordkommission gearbeitet. Ihn begleitete eine Frau von etwa dreißig Jahren. Sie hatte eine üppige Figur, und ihr Haar bestand aus einem Gewirr von kupferroten Locken.
»Meine Kollegen Kris Feilke und Tansu Bakrac«, erklärte Scholz.
Fabel nickte. Aus dem Namen der jungen Frau ging hervor, dass sie Deutschtürkin war. Er überlegte unwillkürlich, ob das auffällige Kupferrot von den alten keltischen Stämmen stammte, die sich in Galatien niedergelassen hatten. Die beiden Beamten schüttelten ihm die Hand und nahmen Platz. Fabel bemerkte die Ungezwungenheit zwischen Scholz und seinen Untergebenen und fragte sich, welche Disziplin in dem Team herrschte.
»Also gut, Jan«, sagte Scholz. »Wir haben nur noch drei Wochen bis zum Karneval. Und es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass unser Mann sich nach mehr Fleisch umsehen wird. Endlich habe ich einmal Gelegenheit, einen Mord zu verhindern, statt einen Fall aufklären zu müssen. Oder, besser gesagt, wir haben Gelegenheit, ihn zu verhindern. Aber bisher tappe ich leider im Dunkeln. Deshalb sind wir für jeden Vorschlag dankbar.«
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich mir die Freiheit genommen habe, vor meiner Abfahrt ein paar Dinge zu veranlassen«, erwiderte Fabel. »Du erinnerst dich an den Fall Armin Meiwes?«
»Natürlich … der Kannibale von Rotenburg.«
»Meiwes gab Anzeigen für sein Opfer auf. Im Internet. Er benutzte den Online-Namen ›Metzgermeister‹. Vor zwanzig Jahren hätte Meiwes vielleicht ein Leben geführt, in dem seine Fantasien nie verwirklicht worden wären. Aber ihm stand das Internet zur Verfügung, der große Vermittler. An diesem anonymen Treffpunkt kann jeder seine Fetische und Perversionen mit anderen teilen. Das Außergewöhnliche wird alltäglich, und das Abnorme erscheint normal.«
»Sie glauben also, dass dieser Fall mit dem Internet zu tun hat?«, fragte Tansu.
»Möglicherweise gibt es eine direkte Verbindung. Aber bevor wir der Spur nachgehen, müssen wir begreifen, wie der Täter denkt.«
»Und das weiß nur Gott«, sagte Kris. »Wahrscheinlich lebt er in einer Fantasiewelt. Ein Psychopath.«
Fabel schüttelte den Kopf. »Da irren Sie sich. Kriminalpsychologen und Gerichtspsychiater benutzen die Begriffe ›Psychopath‹ oder ›Soziopath‹ nicht mehr so wie früher. Diese Bezeichnungen werden in den Medien heute derart unscharf und allgemein verwendet, dass sie, ähnlich wie früher der Begriff ›Axtmörder‹, jeglichen Inhalt verloren haben. Es ist besser, einen Psychopathen als Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung zu beschreiben. Zumeist fehlen ihm alle Emotionen und jegliches Einfühlungsvermögen gegenüber anderen. Er empfindet niemals Reue. Die meisten Psychopathen sind leicht zu identifizieren, weil sie seit ihrer Kindheit entsprechende Symptome an den Tag gelegt haben.« Fabel unterbrach sich und dachte an Witrenko: jemand, der nichts Menschliches an sich hatte. »Serienmörder leiden gewöhnlich unter Persönlichkeitsstörungen, sind jedoch selten psychopathisch. Sie wissen, dass sie Unrecht tun – ein Psychopath dagegen nicht. Deshalb werden viele Psychopathen, die man erfolgreich behandelt hat, mit einem Mal von ungezählten Gewissensbissen überwältigt und begehen Selbstmord, weil sie nicht mehr mit ihrer Vergangenheit leben können.«
»Dieser Mörder ist also kein Psychopath?«
»Das steht nicht hundertprozentig fest«, sagte Fabel, »aber ich halte es für unwahrscheinlich. Serienmörder haben in der Regel nicht nur eine in sich geschlossene Persönlichkeit, sondern sie wechseln ihre Identität je nach Situation, Partnern und so weiter. Es handelt sich nicht um multiple Persönlichkeiten im eigentlichen Sinne, aber ihre Wesenszüge sind nicht fest verankert. Ihr ausgeprägtestes Merkmal ist ein übergroßes Ego. Das Universum, so meinen sie, dreht sich allein um sie. Dies und ihre unklare Persönlichkeit teilen sie tatsächlich mit Psychopathen. Entscheidend ist jedoch, dass sie nicht verrückt sind. Ich glaube, der Karnevalsmörder möchte das Gefühl haben, kein komischer Kauz, sondern Teil der Gemeinschaft zu sein.«
»Und aus diesem Grund vermuten Sie eine Internetverbindung?«, fragte Tansu.
»Das ist eine Möglichkeit. Er braucht einen Ort, wo er Fantasien und sogar Erfahrungen austauschen oder Inserate aufgeben kann, um freiwillige Opfer zu finden. Der Mörder hat bestimmt mehr als ein Mal
Weitere Kostenlose Bücher