Jan Fabel 06 - Tiefenangst
zu verstehen, dass ich ein unabhängiges Bewusstsein hatte, das mir ermöglichte, aufrichtig einzuwilligen oder eben nicht.«
»Als ob Sie gar nicht da gewesen wären?«, fragte Fabel.
Tanja Ulmen starrte ihn an. »Ja. Ja, genau das ist es«, sagte sie und wirkte zum ersten Mal während des Gesprächs energiegeladen. »Als ob ich gar nicht da gewesen wäre.«
Auf der Rückfahrt nach Hamburg bat Fabel Anna um die Adresse des türkischen Restaurants, das Müller-Voigt und Meliha Yazar regelmäßig besucht hatten.
»Könntest du dort anrufen und herausfinden, ob der Kellner aus dem Urlaub zurück ist und wir, wenn er zurück ist, bei unserer Ankunft mit ihm reden können?«
Anna telefonierte und bestätigte Fabel, dass der Kellner auf sie warten würde.
»Hast du den Bericht gesehen, den Tramberger, der Mann vom Katastrophenteam, uns geschickt hat?«, fragte Anna. »Er ist heute Morgen eingetroffen.«
»Du meinst die Sache mit der virtuellen Elbe? Nein, ich hatte noch keine Gelegenheit dazu.«
»Du solltest dir die Zeit dazu nehmen. Nach seinem Modell – und er sagt, er habe es mehrere Male durchlaufen lassen – wurde der Rumpf drei Kilometer stromaufwärts ins Wasser geworfen, aber genau in der Mitte des Flusses, in die tiefe Fahrrinne.«
»Von einem Boot?«
»Sieht so aus. Er sagt, der Gerichtsmediziner solle nach Anzeichen suchen, ob die Leiche beschwert worden ist. Wahrscheinlich sei sie dort ins Wasser geworfen worden, weil es so weit stromaufwärts die tiefste Stelle in der Elbe ist. Weniger große Schiffe, mehr Kähne und eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass sie hochgewirbelt wird. Seiner Meinung nach sollte der Rumpf am Boden bleiben und nie gefunden werden. Klingt plausibel, Jan. Ich nehme an, dass der Kopf und die Gliedmaßen ebenfalls über den Boden verstreut sind. Wer immer dafür verantwortlich ist, wollte eine Identifikation um jeden Preis verhindern.«
Der Osmanische Palast war weit weniger eindrucksvoll, als sein Name vermuten ließ, doch er besaß einen gewissen Stil. Keine mit Touristenplakaten der Türkei geschmückten Wände. Es war ein einfaches Lokal mit subtilen Hinweisen – beispielsweise einem bunten Wandteppich – auf die Kultur, die die Speisen hervorgebracht hatte. Während sie auf Osman warteten – den Kellner, der Müller-Voigt und seine Begleiterin regelmäßig bedient hatte –, sah Fabel sich gründlich in dem Restaurant um. Es dürfte keines von Müller-Voigts üblichen Zielen gewesen sein. Die Wahl des Ortes, ob sie nun von Meliha oder Müller-Voigt getroffen worden war, entsprang hauptsächlich dem Bedürfnis nach Diskretion.
Ein recht kleiner Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren kam mit eifrigem Lächeln aus der Küche. Er hatte rostbraune Haare, stellte sich als Osman vor und versicherte Fabel, er wolle unbedingt helfen. Er war einer jener Menschen, deren überschäumende Gutmütigkeit, selbst wenn man sich bemühte, sie zu ignorieren, ansteckend war.
»Sie hatte einen Istanbuler Akzent«, erwiderte Osman, als Fabel ihn fragte, woran er sich im Zusammenhang mit Meliha erinnere. »Sie klang gebildet, und mir schien, dass sie ziemlich reich war. Sie trug teure Kleidung. Eine schöne Frau.«
»Aber der Restaurantbesitzer meinte, dass sie ungern über sich sprach.«
»Das ist wahr. Wenn ein Gast mit einem so perfekten, wunderbaren Türkisch mit mir redet, frage ich natürlich, woher er kommt. Sobald ich die Frage gestellt hatte, war mir, als hätte ich einen Fehler gemacht. Es ist seltsam mit Gästen. Man lernt, ein Thema manchmal sehr schnell fallenzulassen. Auf keinen Fall sollen sich die Gäste unbehaglich fühlen«, beteuerte er sehr ernst.
»Und sie war besonders empfindlich, was ihre Herkunft betraf?«
»So schien es mir. Sie sagte, dass sie aus Silviri, an der Küste bei Istanbul, kam, aber danach waren die Schotten dicht, wenn Sie wissen, was ich meine. Deshalb habe ich schnell das Thema gewechselt.«
»Wirkten die beiden glücklich?«
»Sehr sogar. Er besonders. Sie waren ein nettes Paar. Passten gut zusammen. Natürlich war da ein großer Altersunterschied, aber sie schienen völlig vernarrt ineinander zu sein.«
»Gab es jemals einen Austausch zwischen ihnen und anderen Leuten? Haben sie je Freunde oder Gäste mitgebracht?«
»Nein, sie waren immer nur zu zweit. Ich kann mich nicht einmal erinnern, dass andere Gäste mit ihnen sprachen oder sich im Vorbeigehen verabschiedeten. – Das da war ihr üblicher Tisch …« Er zeigte auf
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