Jan Fabel 06 - Tiefenangst
einen Tisch im hintersten Teil des Restaurants, am Ende eines Bogens. Dies bestätigte Fabels Theorie, dass die beiden das Restaurant gewählt hatten, weil es ihnen eine gewisse Anonymität bot. Niemand kam auf dem Weg zum Ausgang oder zu den WCs an ihnen vorbei. Meliha und Müller-Voigt brauchten sich nur mit Osmans gutmütigen Unterbrechungen abzufinden.
»Bitte denken Sie sorgfältig über folgende Frage nach, Osman«, sagte Fabel. »Gab es irgendetwas Ungewöhnliches, das Ihnen über die beiden im Gedächtnis geblieben ist?«
Er runzelte die Stirn und tat genau das, worum Fabel ihn gebeten hatte. Nach einem Moment erwiderte er: »Nein, nichts. Sie waren bloß ein glückliches Paar, das sehr verliebt zu sein schien. Ich war so erschüttert, als ich von Herrn Müller-Voigts Tod hörte. Ich wünschte wirklich, dass ich Ihnen mehr helfen könnte …«
»Vielen Dank, Osman. Im Gegenteil, Sie haben uns sehr geholfen.« Fabel lächelte, denn er wusste, dass der Kellner nach Kräften versucht hatte, sich an jedes nützliche Detail zu erinnern. Dann dankte er dem Restaurantbesitzer, bevor Anna und er auf den Ausgang zusteuerten.
»Ich war erstaunt darüber, dass sie nicht öfter hierherkamen«, sagte Osman, als sie bereits die Tür geöffnet hatten. »Weil sie doch ganz in der Nähe wohnt.«
Anna und Fabel erstarrten auf der Schwelle. Sie traten wieder ein und ließen die Tür hinter sich ins Schloss fallen. »Sie wissen, wo Meliha Yazar wohnt?«, fragte Fabel. Er spürte ein elektrisierendes Prickeln im Nacken.
»Also … ja. Wahrscheinlich. Wenn sie da nicht bloß zu Besuch war. Aber sie schien dort zu wohnen.«
»Wo? Und wie kommen Sie darauf?«, erkundigte sich Anna.
»Ungefähr drei Blocks von hier steht ein Wohnhaus. Eines Tages kam ich daran vorbei – mein Cousin wohnt im Nachbargebäude – und sah, wie Frau Yazar mit Lebensmitteln das Haus betrat.«
»Holen Sie Ihre Jacke …«, sagte Fabel und hielt die Tür auf.
Sie brauchten nicht mehr als fünfzehn Minuten mit ihren Nachbarn zu sprechen, um zu ermitteln, dass Meliha Yazar in der dritten Etage des Gebäudes wohnte. Es war ein modernes Apartmenthaus und, wie Osman gesagt hatte, nur drei Blocks vom Osmanischen Palast entfernt.
Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass es das richtige Gebäude war, schickte Fabel den Kellner zum Restaurant zurück. Der junge Mann strahlte bei dem Gedanken, etwas wirklich Wertvolles beigesteuert zu haben. Zuvor hatte Fabel Osmans einzige Sorge ausgeräumt, dass Meliha Yazar Ärger mit der Polizei bekommen könne.
»Ganz und gar nicht«, hatte Fabel ihn beruhigt. »Wir versuchen, Frau Yazar zu helfen. Und Sie haben ihr schon geholfen.«
Osman war gut gelaunt an seine Arbeit zurückgekehrt.
Aber bald stellte sich heraus, dass Meliha Yazar nicht Meliha Yazar war.
»Sie meinen Frau Kebir …«, korrigierte die junge Mutter, die die Tür der anderen Wohnung im dritten Stock geöffnet hatte. Sie drückte ein Kleinkind an sich. »Ich habe sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Vielleicht seit einem Monat. Aber sie verreist sehr oft. Das hat wahrscheinlich mit ihrer Arbeit zu tun. Ich glaube, sie fliegt oft in die Türkei zurück.«
»Wissen Sie, was für einen Beruf sie hat?«, fragte Anna.
»Eigentlich nicht.«
»Und seit einem Monat ist niemand mehr in der Wohnung gewesen?«
»Das habe ich nicht gesagt. Sie ist seit einem Monat nicht mehr hier gewesen, aber sie hat irgendwelche Arbeiten in der Wohnung machen lassen. Vor ungefähr drei Wochen, nach ihrer Abreise, waren ein paar Handwerker hier. Aber das war in Ordnung, denn sie hatten mir zwei Tage vorher einen Zettel unter der Tür durchgeschoben, auf dem sie ihre Arbeiten ankündigten.«
»Verstehe«, sagte Fabel. »Hat Frau Ya … ich meine Frau Kebir … Ihnen vielleicht einen Schlüssel zu ihrer Wohnung gegeben?«
»O nein.« Die junge Frau wiegte das unruhige Kind in ihren Armen. »Sie war sehr zurückhaltend. Sehr auf ihre Privatsphäre bedacht.«
Fabel dankte ihr, und sie zog sich in ihre Wohnung zurück und schloss die Tür.
»Weißt du was, Anna?«, sagte Fabel. »Sie sind nicht so gut, wie ihre Werbung uns glauben machen will.«
»Wer?«
»Die Leiter des Pharos-Projekts. Bisher habe ich gedacht, sie hätten sämtliche Spuren von Meliha Yazar verwischt, aber davon kann keine Rede sein. Die falsche Adresse, die sie Müller-Voigt gegeben hat, der falsche Familienname – ein kluger Schachzug, Kompliment: Behalte deinen Vornamen, falls
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