Jan Fabel 06 - Tiefenangst
du in der Öffentlichkeit auf jemanden stößt, den du von früher kennst. All das geht auf ihre eigene Initiative zurück. Sie wollte keine Spur von Meliha Yazar hinterlassen.«
»Irgendein Betrug? Meinst du, dass sie in so etwas verwickelt war?«
Fabel schüttelte den Kopf. »Nein, durchaus nicht. Eher eine verdeckte Ermittlung.«
Anna musterte die massiv wirkende Wohnungstür einen Moment lang. »Soll ich im Eilverfahren einen Durchsuchungsbefehl besorgen?«
Statt zu antworten, trat Fabel gegen die Tür. Ein zweiter Tritt war erforderlich, bevor das Holz um das Schloss splitterte und die Tür nachgab.
»Wir haben Grund zu der Annahme, dass die Bewohnerin in Gefahr ist«, sagte er. »Wir brauchen keinen Durchsuchungsbefehl.«
Die Wohnungstür führte in einen langen Korridor. Er war hell und makellos sauber, und am anderen Ende hing ein großes, gerahmtes Poster, von dem ein gut aussehender Mann mittleren Alters Fabel mit stechenden hellen Augen anschaute. Er trug einen altmodischen Anzug und hatte die Daumen in den Westentaschen vergraben. Eine unglaubliche Entschlossenheit spiegelte sich in den hellen Augen wider, von denen das eine, wie Fabel wusste, wegen einer im Ersten Weltkrieg erlittenen Schrapnellwunde ein wenig deformiert war.
»Jedenfalls ist das ihre Wohnung.« Fabel nickte in Richtung des Posters.
»Wer ist das?«, fragte Anna.
»Ihr Idol. Mustafa Kemal Atatürk. Der Vater der modernen Türkei. Meliha Yazar – oder Kebir oder wie immer sie wirklich heißt – suchte einen neuen Atatürk. Einen ›Atatürk für die Umwelt‹, wie Müller-Voigt es ausdrückte. Komm, wir sehen uns mal um.«
Sie gingen von Zimmer zu Zimmer. Die Wohnung war voll von türkischen, deutschen und englischen Büchern – literarischen Klassikern, Fachliteratur über Umweltfragen, geologischen und ökologischen Lehrbüchern. Fabel betrat das Schlafzimmer. Das Bett war gemacht, und wie in der ganzen Wohnung befand sich auch hier alles in einem perfekten Zustand.
»Sie war sehr ordentlich, kein Zweifel«, sagte Anna irgendwo hinter Fabel.
»Zu ordentlich.« Er griff nach den drei Taschenbüchern auf dem Nachttisch. »Sie haben alles durchsucht. Jede Ecke und jeden Winkel. Ich bin sicher, dass sie zuerst alles fotografiert haben, um es dann, als sie fertig waren, an die richtige Stelle zurückzulegen. Gute Arbeit, das muss ich zugeben.«
»Die Handwerker, von denen ihre Nachbarin gesprochen hat?«
Fabel antwortete nicht, sondern sah die Bücher durch, als ob er langsam Karten mischte. Eine englische Ausgabe von George Orwells 1984 . Ein Exemplar von Friedrich Dürrenmatts Der Richter und sein Henker , eines von Rachel Carsons Der stumme Frühling auf Englisch. Er musterte die Bücher erneut. Ihre Anordnung schien etwas zu bedeuten, doch er kam nicht darauf, was es sein konnte. Fabel verließ das Schlafzimmer mit den Büchern in der Hand. Kurz darauf traf das Spurensicherungsteam ein.
»Hast du noch etwas angefasst, von dem ich wissen sollte?«, fragte Holger Brauner mit einem Blick auf die Bücher in Fabels Hand.
»Du wirst hier nichts ausrichten können, Holger. Sieh dich um. Was stimmt an diesem Bild nicht?«
Brauner betrachtete das Zimmer und wandte sich Fabel zu. »Keine Ahnung … Außer dass es verdammt ordentlich ist.«
»Jemand ist uns zuvorgekommen«, sagte Fabel. »Wirkliche Profis. Sie haben hinterher aufgeräumt.«
»Ich wünschte, sie würden meine Wohnung durchstöbern«, meinte Anna. »Ich könnte einen Frühjahrsputz gut gebrauchen.«
»Aber das ist noch nicht alles, was an diesem Bild nicht stimmt. Du auch, Anna. Fällt dir etwas Seltsames auf?«
Beide schauten sich noch einmal im Zimmer um. Dann glitt ein Ausdruck der Erleuchtung über Annas Gesicht.
»Das Gleiche wie beim letzten Opfer des Network-Killers?«
»Ganz genau«, bestätigte Fabel. Brauner sah ihn verwirrt an. »Kein Computer … Kein Computer, kein Handy, keine Ladegeräte, keine Memorysticks, nicht einmal ein elektronischer Taschenrechner.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Brauner. »Darauf, dass der Network-Killer ebenfalls hier gewesen ist?«
»Ich kann dir garantieren, dass es nicht der Network-Killer war, Holger. Das ist das Einzige, dessen ich mir sicher bin. Jemand anders hat diese Wohnung umgekrempelt und Computer und Handy mitgenommen. Jemand, der nicht wollte, dass wir erfahren, wer der Network-Killer war und was aus ihm geworden ist.«
»Jetzt kann ich dir auch nicht mehr folgen«, sagte Anna.
»Alles zu
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