Jan Fabel 06 - Tiefenangst
dafür gebraucht, die Information zu dechiffrieren und zu übertragen.
Meliha Yazar.
Die Frau, die er in dem Café gesehen hatte, hieß Meliha Yazar. Roman war zutiefst traurig bei dem Gedanken, dass eine so schöne Frau nun vermutlich tot war. Genau wie er es bald sein würde.
Er hasste sie nicht mehr, weil sie das Handy neben ihm hatte liegen lassen. Durch diesen Akt – den er nun nicht mehr als zufällig empfand; vielleicht hatte sie irgendetwas Besonderes an ihm entdeckt – war ihm ein großes Geschenk gemacht worden, denn nun wusste Roman etwas über sich selbst, das er zuvor nicht gewusst hatte: Er war mutig. Obwohl er sich immer für einen Feigling gehalten hatte, war ihm plötzlich klar geworden, dass er sich nicht fürchtete zu sterben. Sie würden ihn töten, doch vorher würde er dafür sorgen, dass die Information, die sie ihm durch jenen schlichten Akt im Café anvertraut hatte, an den Polizisten Fabel und andere weitergegeben wurde. Roman wusste, dass es sinnlos war, die Information per E-Mail zu versenden. Er kannte die Raffinesse seiner Feinde und das Ausmaß ihrer technischen Möglichkeiten. Ein Teil ihrer Arbeit weckte seine aufrichtige Bewunderung. Wirklich kreativ.
Aber sie waren gefährlich. Wenn sie ihn aufgespürt hatten, würden sie als Erstes seine Computerdaten und seine Blogging-Präsenz löschen, um zu verhindern, dass er sie elektronisch verpfiff.
Er wusste auch, dass er sich nicht einfach auf Fabel verlassen konnte, denn vermutlich würde der Polizist ebenfalls bald tot sein. Roman und Fabel waren die äußeren Fäden eines Informationsnetzes, das gebändigt, die Peripherie eines Kreises, der geschlossen werden musste.
Doch das betraf die reale Welt. Und Roman existierte nicht nur in der realen Welt. Er kannte die Wahrheit und die Verlogenheit ihres Wunschtraums von einer digitalen anderen Welt. Sie existierte, war jedoch nur zugänglich, wenn man den völligen Tod seines Egos hinnahm. Ein seelenloser Schatten der Realität. Das wusste Roman, denn er hatte zu viel von seinem jungen Leben dort verbracht.
Er beendete die Entschlüsselung der Dateien. Und hier war das Ergebnis: das Geheimnis des Pharos-Projekts, das niemals an die Öffentlichkeit gelangen sollte. Es war wahnsinnig gewesen zu glauben, dass sie imstande seien, etwas Derartiges vor der Welt zu verbergen. Andererseits war die große Lüge immer die dauerhafteste; diejenige, die man am leichtesten aufrechterhalten konnte.
Sobald Roman die Dateien in die verschiedenen von ihm gewünschten Formate umgewandelt hatte, ging er durch seine Wohnung und öffnete die Vorhänge. Er mühte sich mit zwei Fenstern ab, schaffte es jedoch, sie aufzumachen und frische Luft einzulassen.
Dann verließ er die Wohnung.
Es war sonnig. Der erste wirklich sonnige Tag des Jahres. Die Straße in Wilhelmsburg schien nach der Stille seiner Behausung voller Lärm zu sein. Er dachte an die Albaner, die unter ihm wohnten und im Grunde wenig Lärm machten. Roman dagegen hatte sich intolerant gezeigt, weil er unfähig gewesen war, sich noch einen weiteren Schritt von der Menschheit und der realen Welt zu entfernen. Er hatte begriffen, dass Menschen wie er von jeher existiert hatten: beispielsweise die mittelalterlichen Mönche, die sich für die Askese in einer Klosterzelle und die virtuelle Realität der Religion entschieden, oder die antiken Philosophen, die sich in Höhlen oder Fässern versteckten und Kommentare zu der menschlichen Befindlichkeit abgaben, von der sie sich selbst gelöst hatten.
Er brauchte lange, um in die Stadt zu gehen. Aber er war entschlossen, den Weg zu Fuß zu bewältigen. Hin und wieder musste er sich an eine Wand lehnen, um Atem zu schöpfen, und er setzte sich jedes Mal hin, wenn sich die Gelegenheit bot: auf städtische Bänke oder einmal sogar auf den Deckel einer Abfalltonne.
Roman bemerkte, wie andere ihn anschauten, doch heute war es ihm gleichgültig. Heute musste er eine Mission erfüllen, ein Ziel erreichen, das ausnahmsweise nicht nur mit ihm selbst zu tun hatte. Zuerst ging er zum Postamt, kaufte fünf wattierte Umschläge und ließ in jeden einen Memorystick und eine handgeschriebene Notiz fallen. Er verharrte einen Moment, bevor er die Umschläge in den Postschacht gleiten ließ. In jenem Moment dachte er an Meliha, die Frau im Café, die Frau, die hinter der Wahrheit steckte. Er hoffte, dass sie irgendwie und irgendwo erfahren würde, was er für sie tat.
Danach ging Roman zu einem Bankautomaten, hob
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