Jan Fabel 06 - Tiefenangst
fünfhundert Euro ab, faltete die Scheine säuberlich und legte sie in einen sechsten Umschlag. Auf dem Heimweg suchte er zwei weitere Bankautomaten auf und hob mit verschiedenen Karten jedes Mal weitere fünfhundert Euro ab. Als Roman endlich wieder am Haupteingang seines Mietshauses ankam, schnaufte und schwitzte er heftig. Er lehnte sich an die Wand und blickte zum Himmel hinauf. Hoch über ihm ließ ein in der Ferne glänzendes Passagierflugzeug einen Kondensstreifen entstehen. Es sah aus, als ziehe es einen weißen Faden durch blaue Seide.
Es gibt niemals bloß eine einzige Realität, dachte er, während er das Flugzeug beobachtete und sich fragte, was die Passagiere aus einer solchen Höhe von Wilhelmsburg erkennen konnten. Es gibt so viele Realitäten wie Menschen auf der Erde; die Realität ist das, was im Kopf jedes Einzelnen existiert. Wenn sie mich töten, wird meine Realität enden, aber ich werde nicht spüren, dass sie endet. Genau wie ich vor meiner Geburt kein Bewusstsein hatte, werde ich auch nach meinem Tod kein Bewusstsein haben. Folglich gibt es die Zeit nur, während ich sie wahrnehme. Die Zeit hat mit mir begonnen und wird mit mir enden. Ich bin unsterblich.
Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, betrat er das Mietshaus und begann den langsamen, quälenden Aufstieg die Treppe hinauf. Als er die Tür der Wohnung unter seiner eigenen erreichte, atmete er noch mühsamer. Der Albaner öffnete die Tür und erkannte Roman. Sein Gesicht wurde dunkel vor düsterem Zorn, doch dann schien er Romans Zustand zu bemerken, und der Zorn verwandelte sich in Besorgnis.
»Fehlt was? Sehen nicht gut aus …«
»Jetmir …« Roman stieß das Wort nach einem asthmatischen Keuchen hervor. »So heißen Sie doch … Jetmir?«
Der Albaner nickte und trat vor, um ihm zu helfen. Roman hätte fast gelacht, denn Jetmir war ein kleiner, drahtiger, dunkelhäutiger Mann, den er erdrücken würde, wenn er auf ihn fiele.
»Reinkommen. Sie nicht gesund. Hole Doktor.«
»Keinen Arzt, Jetmir. Es tut mir leid. Ich war derjenige, der immer wieder die Polizei angerufen hat. Das wussten Sie sowieso, aber ich sage Ihnen jetzt, dass ich es war, und ich möchte mich entschuldigen.« Er drückte dem Albaner den Umschlag mit den fünfzehnhundert Euro in die Hand. »Bitte. Ich möchte, dass Sie es annehmen. Ich weiß, dass Sie nicht viel Geld haben.«
Der Albaner starrte das Bargeld an. »Warum?«, fragte er, machte jedoch keinen Versuch, den Umschlag zurückzugeben.
»Weil ich ein schlechter Nachbar gewesen bin. Und weil ich möchte, dass Sie etwas für mich tun. Es ist eine Vorauszahlung.« Roman machte eine Pause. Ein Stechen durchzog seine Brust und erfasste seinen linken Arm. Er packte das Hemd des Albaners und zog ihn dicht an sich heran. Mit der anderen Hand drückte er ihm den zweiten Umschlag an den Oberkörper. »Das ist für die Polizei. Es ist sehr wichtig, dass sie es erhält. Böse Männer kommen, Jetmir. Sie sind hinter mir her.«
»Dann hole ich jetzt Polizei …«
»Nein!«, rief Roman und packte den kleinen Albaner noch fester. »Nein. Das könnte gefährlich für Sie und für Ihre Familie werden. Hören Sie, wenn mir etwas zustößt, müssen Sie der Polizei den Umschlag geben. Aber nur einem Polizisten namens Fabel. Jan Fabel. Sein Name steht drauf. Verstehen Sie? Geben Sie ihn keinem anderen.«
Der Albaner nickte energisch. »Hier warten, ich hole Wasser.«
Es dauerte nicht weniger als fünfzehn Minuten, bis der Schmerz nachließ und Roman, der langsam das Wasser trank, wieder zu Atem kam. Während sie auf der Treppe saßen, sprachen Roman und der Albaner miteinander. Sie plauderten über Alltägliches wie Jetmirs Heimatort in Albanien, seine Kinder und darüber, dass sie genau wie Deutsche klangen. Aber im Lauf der gesamten Unterhaltung verließ der ernste Ausdruck der Besorgnis nie Jetmirs Gesicht. Roman erinnerte sich daran, wie die Albaner nach dem Einzug der Familie versucht hatten, mit ihm zu reden und sich mit ihm anzufreunden. Er hatte Gewissensbisse, wenn er daran dachte. Schließlich waren sie Menschen, nicht bloß eine Störung, ein Ärgernis am Rand von Romans Existenz.
»Machen Sie sich keine Sorgen um mich«, sagte Roman und stand langsam, mühevoll von der Treppe auf. »Ich habe keine Probleme. Aber vergessen Sie Ihr Versprechen nicht.«
»Ich vergesse nicht. Wir gute Nachbarn. Sie sind mein fqninj . Wir kümmern uns.«
Der Albaner half Roman, die übrigen Stufen bis zu seiner
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