Jan Tabak geht aufs Ganze
zur Sache zu kommen. „Hat dein Lehrer dir ein paar gelangt?“
„Quatsch!“ entgegnete Tim. „Das wagt er nicht. Wenigstens bei uns Großen nicht. Nee, es geht gar nicht um mich. Es geht um Richard Landwehr, einen Jungen aus meiner Klasse.“
„Was ist mit dem?“ fragte Tina, plötzlich sehr interessiert.
„Der arme Kerl kommt jede Woche mindestens einmal grün und blau geschlagen zur Schule. Und die andern aus der Klasse, die veräppeln ihn noch deswegen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie der sich schämt!“
„Karl Landwehr aus Kuhsiel!“ sagte Tina grimmig.
„Richard Landwehr!“ verbesserte Tim.
„Ich meine seinen Vater. Der heißt Karl und ist ein Trinker. Wenn er voll ist, weiß er nicht mehr, was er tut, und prügelt auf dem Jungen herum. Ich habe schon davon gehört.“
„Durch wen?“ fragte Jan verblüfft.
„Durch Gesine Fuchs, die ist dreimal in der Woche bei Cordes zum Reinemachen. Und Cordes’ Haus steht doch neben Landwehrs. Gesine hat schon oft miterlebt, wie der Alte den Jungen vorgehabt hat. Einmal soll er ihn sogar mit einer Zaunlatte verprügelt haben. Der Mann hat eine ganz schlechte Bierweise.“
Nun mischte sich auch Jenny ein.
„Was sagt denn seine Frau dazu?“ fragte sie empört und schien vor echtem Mitgefühl ganz vergessen zu haben, was sie eben noch über die Erziehung in Zucht und Strenge geäußert hatte. „Weist die ihren Mann nicht zurecht, wenn er sein unschuldiges Kind schlägt?“ Tina machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Seine Frau kriegt doch auch was von den Prügeln ab“, sagte sie. „Die hat Angst vor ihm und flüchtet immer zu ihren Eltern nach Borgfeld, wenn Karl betrunken an die Burg kommt. Nein, da müßte man die Polizei einschalten oder das Jugendamt, dann wird ihm der Junge weggenommen und kommt in ein Heim.“
„Das ist auch nicht das einzig Wahre“, sagte Tim. „Da geht der ganz vor die Hunde. In einem Heim brauchst du nämlich ein Fell wie ein Elefant.“
„Auf alle Fälle sollten wir irgend etwas unternehmen!“ bestimmte Jenny. „Sonst machen wir uns mitschuldig.“
Mit diesem guten Vorsatz erhob sich die Großfamilie vom Tisch. Schon am nächsten Tag hatten die beiden Frauen über die kleinlichen Streitereien, die sie miteinander ausfochten, den armen Richard jedoch fast vergessen. Jan Tabak aber ließ das Schicksal des bedauernswerten Jungen nicht mehr los. Er hatte, besonders an den Vormittagen, wenn die Kinder in der Schule waren, viel Zeit, über eine hilfreiche Maßnahme nachzudenken. Und da er auch mit Hinnerk Murken über die Sache sprach, der mit dem alten Landwehr zur Schule gegangen war, bekam er einen wertvollen Hinweis.
Karl Landwehr, so erfuhr er, sei unwahrscheinlich abergläubisch. Überall in seinem Haus habe er Hufeisen und andere Glücksbringer verteilt, und wenn er an irgendeinem Tag ein schlechtes Horoskop habe, traue er sich nicht auf die Straße.
Das brachte Jan auf eine einzigartige Idee.
Etwa zehn Tage später sprang er beim Mittagessen plötzlich auf, ging einen Schritt auf das Fenster zu und stierte mit weit aufgerissenen Augen hinaus.
„Karl Landwehr“, murmelte er, „ich sehe dich.“
Jenny und die Kinder guckten ebenfalls aus dem Fenster, aber sie sahen den Trunkenbold nicht.
„Bleibt sitzen und verhaltet euch ruhig“, flüsterte Tina, „er hat ein Gesicht.“ Und als die drei sie fragend anblickten, erklärte sie: „Jan sieht manchmal Dinge voraus, die eintreten werden. Ihr dürft ihn jetzt nicht stören. Pst!“
Jan Tabak stand wie ein Baum und starrte in den hellen Nachmittag. Seine Lippen bewegten sich langsam, aber kein Laut kam aus seinem Mund. Fast fünf Minuten lang sah er in die Zukunft, die dort zwischen dem Apfelbaum und der Erle am Deich zu weben schien. Dann endlich löste er sich aus der Erstarrung und fand zurück in die Gegenwart. Wie ein Erwachender blickte er um sich und schien sich über die vielen Zuschauer zu wundern.
„Was ist los?“ fragte Tina. „Was wird mit Karl Landwehr?“
Jan kniff die Augen zusammen.
„Karl Landwehr?“ flüsterte er, „Karl Landwehr?“ und dachte angestrengt nach. Auf einmal fiel es ihm ein. „O ja, Karl Landwehr!“ rief er. „Mein Gott, der hat nichts Gutes zu erwarten. Der wird von der alkoholischen Degeneritis befallen. Er wird immer weniger, immer weniger, verliert jeden Tag ein paar Gramm und fällt unverhofft um und ist tot. Aber vorher“, und hier schwoll Jan Tabaks Stimme drohend an, „vorher wird ihn eine
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