Jan Tabak geht aufs Ganze
Rote-Sand-Leuchtturm, an backbord den alten und an steuerbord den neuen. Und da wurde die See rauher. Trotz der eingebauten Stabilisatoren begann das Schiff stark zu schlingern und zu schwanken. Der Wind frischte auf, und die Wolken versammelten sich ausgerechnet vor der Sonne.
Auf Deck begann es zu ziehen. Tina schlug den Mantelkragen hoch. Viele Fahrgäste verließen ihren Liegestuhl und suchten sich einen Platz im Innern des Schiffes.
Als Jenny wieder nach draußen kam, schwankend von der Bewegung des Alkohols in ihrem Blut und der Bewegung des Schiffes unter ihren Füßen, fuhr ihr eine Windbö ins Gesicht und riß ihr fast den Südwester ab.
„Hallo“, rief sie gutgelaunt, „gibt es Sturm, Herr Kapitän?“
Jan, der hinter ihr die Treppe hochgestiegen war, stützte sie und antwortete: „Es scheint so, Madam, aber unser Schiff ist unsinkbar. Wir brauchen nicht mal Schwimmwesten anzulegen.“
Tina kam ihnen entgegen.
„Ich gehe in den Speisesaal, hier oben ist es jetzt zu ungemütlich. Ich habe schon eiskalte Hände.“
„Geh nur“, erlaubte Jenny großmütig, „wir kommen später nach. Aber noch brauchen wir ein bißchen Seeluft um die Nase.“
Tina verschwand, um sich aufzuwärmen. Jenny aber marschierte von backbord nach steuerbord, spuckte in die schäumende Gischt und erlebte ein lang entbehrtes Hochgefühl. Jan blieb an ihrer Seite und beobachtete sie schmunzelnd.
„Wo ist denn der Hund?“ fragte sie unvermittelt. „Er war doch hier auf Deck?“
„Er ist mit den Kindern unterwegs“, antwortete Jan. „Die passen auf ihn auf. Ins Wasser springen wird er schon nicht.“
Das Deck wurde immer leerer. Nur noch ein paar ganz Unerschrockene trotzten dem kalten Wind. Nach einigen Minuten fing auch Jenny an zu frösteln. Sie schüttelte sich und verlangte nach Wärme. Und erschrocken stellte sie fest, daß ihr übel wurde. Sie, die sich den größten Seehelden aller Zeiten seelenverwandt fühlte, spürte Schwindel und einen nie gekannten Brechreiz. Sie warf Jan Tabak einen dringenden Blick zu, den der sofort richtig deutete.
„Komm, Jenny“, sagte er, „unter Deck ist es nicht so schlimm. Wenn du in einem tiefen Sessel sitzt und die Augen zumachst, hast du es bald überstanden.“
Behutsam führte er den verhinderten Seehelden in den Speisesaal und schaute nach seiner Frau aus. Er fand sie rasch. Sie saß in der Ecke neben der Tür und löffelte eine Suppe. Wie es schien, ging es ihr gut, denn sie lächelte und aß sichtlich mit großem Appetit. Neben ihr saßen Nicole und Tim. Und auch denen machte die stürmische Seefahrt anscheinend nichts aus. Sie aßen eine Riesenbratwurst und tranken eisgekühlten Sprudel dazu.
Aber der vierte der Tischrunde hatte alle gute Laune verloren. Ihm schien die Welt ein Jammertal und die Seefahrt eine Vorstufe der Hölle.
Dieser vierte war nicht etwa Hinnerk Murken, nein, der vergnügte sich noch in der Bar. Es war Lady, die wie ein geschlachtetes Kalb auf dem Boden lag, die Beine weit von sich gestreckt. Ihr freundliches Gesicht war qualvoll entstellt. Das sonst so heitere Auge blickte glanzlos durch Männer-, Frauen- und Stuhlbeine zur Musikkapelle hinüber, die eine irrsinnige Musik produzierte. Tiefe Falten hatten sich in ihre Hängebacken gegraben. Ihr war elend zum Sterben. Jenny, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um das zu bemerken, setzte sich Lady gegenüber in einen Armsessel. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Aber das half nicht. Jan holte eine Tüte und steckte sie ihr unauffällig zu. Als Jenny die Augen aufschlug, um ihm dafür zu danken, entdeckte sie den Hund.
„Lady“, flüsterte sie, „ist dir nicht gut?“
Der Hund schielte zu ihr hinüber und schlug einmal mit den Augenlidern. Seine Stimme zu erheben und Antwort zu bellen, hatte er keine Kraft.
„Das arme Tier!“ sagte Jenny tonlos und ließ ihren Kopf wieder auf die Lehne sinken.
„Nimm eine Tablette!“ riet Tina. „Hier! Die hilft.“
Jenny jedoch glaubte, jeden Augenblick überlaufen zu müssen, sie mochte nichts einnehmen. Bleich lag sie in ihrem Stuhl und wünschte sich festen Boden unter den Füßen.
Aber noch war Helgoland nicht in Sicht, eine Stunde mußte sie noch aushalten.
Jan streichelte Lady und sprach ihr Mut zu. Da zog sie die Beine an, wälzte sich auf den Bauch und legte ihren schweren Kopf - Jenny auf den Schoß. Sie hatte mit sicherem Instinkt die Leidensgefährtin erkannt, die da so zusammengesunken in ihrem Stuhl hing. Und da
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