Jan Weiler Antonio im Wunderland
sei es aus Übermut oder aus Rache an seiner Tochter, die ihn schon lange durchschaut hat und damit nicht hinterm Berg hält. Egidio, Raffaele, die Frauen, die Nonna, alle sind gespannt darauf, wie er nun reagiert.
Antonio hebt langsam sein Glas und holt wie in Zeitlupe aus, um mir, denke ich, seinen Wein ins Gesicht zu schütten, aber in letzter Sekunde bremst er und ruft: «Auf meinen klugen Schwiegersohn!» Ich bin gerettet, weil er seine Maske nicht fallen lassen will. Er will sich sein Spielchen, sein Späßchen, sein Steckenpferdchen nicht selbst verderben und prostet mir zu. Was bleibt mir anderes übrig, als mit ihm anzustoßen? Ich erhebe also mein Glas, und die Unterhaltung am Tisch zieht weiter wie eine Karawane. Bald ist der Zwischenfall vergessen.
Ursula verschwindet wenig später. Ich höre, wie sie ins Gästezimmer geht und die Tür schließt.
Obwohl der Abend fürs Erste gerettet ist, liegt nun ein Schatten über dem Urlaub. Bevor meine Schwiegereltern mit Tante Maria und Onkel Egidio die Wohnung verlassen, nehme ich Antonio beiseite und sage leise: «Du solltest dich bei Sara entschuldigen. Das ging vorhin zu weit.»
«Meinste du. Iste erwachsene, sie kann auch mal einer Spaß verstehen.»
«Das war zu viel Spaß.»
Da nickt er und zieht den Reißverschluss seiner Jacke zu. Ich hoffe, dass er sich etwas einfallen lässt, denn sonst sehe ich schwarz für unsere Ferien.
Als wir ins Bett gehen, weint Sara immer noch vor Wut.
«Er geht mir auf den Geist», zischt sie leise.
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«Ich weiß, aber du nimmst das auch alles ziemlich ernst», sage ich. Sie ist mir böse, weil ich Partei für ihn ergreife, es gefällt ihr nicht, dass ich mit ihm lachen kann.
«Immer dieses Getue, wenn er hier ist. Und zu Hause mimt er bei jeder Politesse den doofen Gastarbeiter.»
Sara will kein Gastarbeiterkind mehr sein. Sie hat beide Staatsangehörigkeiten, und manchmal wünschte sie, es wäre nur eine. Überall muss sie ihren Namen buchstabieren.
Ständig muss sie zu Hause ihren Vater in Schutz nehmen. Das Leben der Gastarbeiterkinder besteht zu einem großen Teil darin, die Biographie der Eltern hinter sich zu lassen. Diese Hypothek gibt es zwar nicht nur bei ausländischen Familien, die gibt es überall. Aber das ist Sara egal. Je älter sie wird, desto weiter entfernt sie sich von ihrem Vater. Wie ein treibendes Boot.
«Hättest du was dagegen, wenn ich deinen Namen anneh-me?», fragt sie mich leise. Damals, bei unserer Hochzeit, wollte sie ihn noch behalten, weil er so schön ist.
«Nein, natürlich nicht», flüstere ich und küsse sie. Wir lieben uns ganz leise, damit die Oma nebenan nicht aufwacht.
Hinterher stelle ich fest, dass sie im Laufe des Abends im Zimmer gewesen sein muss. Sie hat das Bild mit dem weinenden Milchbubi wieder umgedreht. Er hat uns die ganze Zeit zugesehen.
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QUATTRO
Sara bleibt gereizt. Ihr Vater macht sie irre. Am Morgen beim Frühstück hat Antonio allen Anwesenden lang und breit und zum vierhundertsten Mal erklärt, warum er nicht Parteivor-sitzender der sozialistischen Partei Italiens geworden ist, nämlich weil vermeintliche Freunde ihn mit einer Intrige ausbooteten. Das könne er ihnen nie verzeihen, und daher habe er mit allen gebrochen und sei nach Deutschland gezogen, wo die Gewerkschaften noch Ehre im Leib hätten und keine Verbrecher seien wie hier. Man hat ihm aufmerksam zugehört, und niemand widersprach ihm, auch nicht Sara, die wie jeder andere im Raum genau weiß, warum Antonio nach Deutschland kam.
In Wahrheit nämlich drückte er sich schlicht und einfach vor dem Militärdienst und den fehlenden Perspektiven in seiner Heimat, wo niemand auf ihn wartete und niemand irgendwelche Hoffnungen an ihn knüpfte, erst recht nicht in der sozialistischen Partei. In Deutschland hingegen wurden Anfang der sechziger Jahre junge und gut ausgebildete Arbeiter wie er dringend gebraucht. Antonio plante, in diesem Deutschland genügend Geld zu sparen, um schließlich nach Amerika aus-zuwandern, wo jedermann reich und sorglos leben konnte.
So hatte er es jedenfalls im Kino gesehen. Er machte sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub und besuchte seine Familie erst wieder, als er sicher sein konnte, nicht mehr zum Militär eingezogen zu werden.
Die Bewunderung für den mutigen Zweitältesten Sohn ver-61
mischte sich damals bei den Marcipanes mit einer Wut dar-
über, von ihm im Stich gelassen worden zu sein. Letzteres hat sich über die letzten dreißig Jahre aber längst
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