Jane Christo - Blanche - 01
vielleicht sogar ein Kollege? Keine Chance. Wayne würde nie mit jemandem zusammenarbeiten. Nun ja, sie natürlich ausgenommen, aber das war etwas anderes, immerhin war er ihr Mentor gewesen. Wayne war ein Einzelgänger, wie alle, die in seinem Gewerbe arbeiteten. Ansonsten könnten sie gleich eine Gewerkschaft gründen oder zu jedem hundertsten Abschuss eine Betriebsfeier organisieren.
Andererseits war sie fast fünf Jahre fort gewesen. Wayne hatte sie mit sechzehn ins Internat gesteckt, als der Boden für ihn zu heiß wurde. Hatte versprochen sie zu holen, sobald sich die Lage beruhigt hätte. Aber mal ehrlich: Wie wahrscheinlich war es, dass sich die Situation für einen Auftragskiller beruhigen würde?
„Hast du ihn kaltgemacht?“ Die Frage war raus, bevor sie sie aufhalten konnte. Klar, jetzt würde er alles zugeben. Gut gemacht, Blanche.
„Das spielt keine Rolle.“
Vielleicht nicht für ihn.
„Wir hatten gemeinsame geschäftliche Interessen. Mein … Vorgesetzter wünscht, dass du die Sache regelst oder seinen Platz einnimmst.“
Moment mal. Das Zögern in seiner Antwort deutete sie als Lüge und nebenbei verlangte er auch noch, dass sie Waynes Auftrag zu Ende brachte? Sonst noch was?
„Ich hab was Besseres zu tun.“
„Ich glaube nicht. Waynes Auftraggeber besteht auf Erfüllung des Vertrags.“
„Das interessiert mich einen Scheiß. Raus mit dir, deine Zeit ist abgelaufen!“ Sie zielte zwischen seine Augen, den Finger am Abzug. Ihren Besucher schien das nicht weiter zu beeindrucken, er schüttelte nur leicht den Kopf, als wollte er ein unartiges Kind tadeln. Blödmann.
„Den Gefallen kann ich dir leider nicht tun. Selbst wenn ich verschwinde, würden andere nach mir kommen. Mein … Boss ist niemand, der Versagen toleriert.“
„Soll ich dir sagen, wie schnurzegal mir das ist?“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Die Waffe wurde ihr zu schwer, schon wieder, und sie wollte endlich allein sein. Wollte, dass dieser Armleuchter verschwand, damit sie sich auf die nächsten Schritte konzentrieren konnte.
„Ich werde nicht gehen, Blanche.“ Seine Stimme war sanft, fast beruhigend. „Ich möchte dir helfen.“
Ja klar, hier standen sie Schlange, um ihr zu helfen – für wie blöd hielt er sie eigentlich? Als er Anstalten machte, aufzustehen, rief sie ihm eine letzte Warnung zu, die er ignorierte. Sie wusste, dass sie abdrücken musste, bevor es zu spät war. Doch der Raum schien sich zu verändern. Er war ohnehin schon winzig, dennoch hatte sie den Eindruck, dass er schrumpfte, als sich ihr Besucher aufrichtete. Großer Gott, er war riesig, wie konnte ihr das entgangen sein? Muskelstränge spannten sich wie Stahlseile unter dem schwarzen Ledermantel, der so eng an seinem Körper lag, als wäre er aufgesprüht. Das wilde Haar bewegte sich in einem Wind, der aus dem Boden zu kommen schien. Seine Narben glühten wie Dermaglyphen dunkel auf, während die grauen Augen eine bestialische Grausamkeit ausstrahlten. Mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung sorgte er dafür, dass die Küchenwände auf sie zukrochen. Blanche stockte der Atem, als der Raum die Größe einer Sardinenbüchse annahm. Es war, als steckte sie in einer Müllpresse. Ihr Herzschlag verdoppelte, verzehnfachte sich, doch sie schoss erst, als er auf sie zukam. Einmal in den Kopf, zweimal ins Herz, wie sie es gelernt hatte.
Nur leider erreichten die Kugeln ihr Ziel nicht.
Der Typ hatte die Hand in die Höhe gerissen und ließ die tödlichen Geschosse vor sich in der Luft schweben. Einfach so.
Blanches Hände zitterten nun sichtlich, sie blinzelte ein paar Mal, doch das Bild blieb das gleiche. Das war nicht möglich, das musste ein Trick sein.
Sie leerte das Magazin, wobei sie diesmal nur auf sein Herz zielte, doch die Kugeln stoppten wie ihre Vorgänger kurz vor dem Ziel, verharrten in der Luft, als wollten sie verschnaufen.
Wäre sie nicht so wütend, hätte sie wahrscheinlich Angst bekommen. Doch das jahrelange Training, ihre wahren Gefühle zu ignorieren, zahlte sich jetzt aus. Sie überwand das aufkommende Entsetzen und zog die Heckler & Koch aus dem zweiten Schulterholster. Die Heckler hatte Wayne ihr zu ihrem fünfzehnten Geburtstag geschenkt, quasi als Abschlusspräsent, nachdem sie ihre offizielle Ausbildung nach einem mordsmäßigen Parcours bestanden hatte. Aber nicht nur deswegen stellte die Waffe etwas Besonderes dar. Es war eine sehr kleine Pistole, nicht so leicht wie die SIG, aber
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