Jane Christo - Blanche - 01
Lage zu peilen. Sie hoffte, dass die Rezeption der Bruchbude, die sie heute Morgen bezogen hatte, über ein Telefon verfügte, was fraglich war.
Auf halbem Weg in ihr Appartement hielt sie auf dem Treppenabsatz inne. Wie es aussah, war sie nicht allein. Das unsichtbare Siegel, ein Haar, das sie auf Bodenhöhe zwischen Rahmen und Tür geklebt hatte, war verschwunden. Lautlos griff sie nach der SIG im Schulterholster. Das letzte Geschenk von Wayne zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Die Waffe war klein und flach, damit sie verdeckt getragen werden konnte. Außerdem war sie für eine Neunmillimeterpistole mit 600 Gramm relativ leicht. Blanche schob den Sicherheitsbügel zurück, überging die Stufe mit dem losen Brett und schlich wie eine Katze zur Tür. Dort angekommen schraubte sie den Schalldämpfer auf die Waffe, denn das Letzte, das sie gebrauchen konnte, waren neunmalkluge Nachbarn, die die Polizei verständigten. Da die Scharniere ihrer Appartementtür zum Gotterbarmen quietschten, ging sie auf Nummer sicher. Schließlich hatte sie keine Lust, dem Empfangskomitee mit Pauken und Trompeten in die Arme zu laufen.
Drei Schüsse auf Brusthöhe, drei weitere zwanzig Zentimeter tiefer. Sie betätigte den Abzug, wechselte das Magazin und lauschte. Doch außer sechs Einschusslöchern war alles wie vorher. Kein Schmerzensschrei, kein unterdrücktes Stöhnen, kein Poltern. Stattdessen plärrte der Fernseher des Nebenmanns in 1 D genau wie die Kinder ihrer Nachbarin eine Tür weiter. Na schön, zumindest hatte sie höflich angeklopft. Vorsichtig öffnete sie die Tür, die – Überraschung! – zum Gotterbarmen quietschte.
Mit der Waffe in der ausgestreckten Rechten überprüfte sie ihr Miniappartement auf Eindringlinge. Es war sauber, wenn man dieses erbärmliche Loch überhaupt so nennen konnte. In jedem Fall gab es hier keinen ungeladenen Gast. Blieben noch Küche, Schlafzimmer und das Bad. Sie schoss zweimal durch die Badezimmertür, warf einen Blick hinein und stieß anschließend mit der Schuhspitze die Küchentür auf.
Und da saß er.
An dem winzigen Tisch, das schmutzige Fenster im Rücken, beide Hände flach auf die Tischplatte gelegt. Sein Blick war auf die Tür gerichtet, auf sie. Durch die verschmierte Scheibe hinter ihm schimmerte ein blitzförmiges Neonlicht, das zum Eingang der Bar darunter wies. Aus ihrer Perspektive sah es so aus, als würde der Pfeil direkt auf den Kopf ihres ungebetenen Besuchers deuten. Fast hätte sie gelacht, denn genau das fehlte dem Typen, dessen Gesicht im Dunkeln lag. Ein Neonschild, auf dem Beute stand. Blink – blink: Hier bin ich!
Sie verabscheute Gäste, darum hätte sie am liebsten einfach geschossen. Außerdem war das heute nicht ihr bester Tag, ihre Laune befand sich bereits im Keller oder eine Etage darunter. Davon abgesehen lautete ihr Motto: Erst abknallen, dann fragen. Dieser Idiot war entweder irre oder lebensmüde, denn niemand bei Verstand brach in das Quartier von Waynes Protegé ein, ohne zumindest eine Waffe griffbereit zu haben. Dass seine Hände gut sichtbar auf dem Tisch lagen, ließ sie zögern.
„
Blanche
.“
Eine Gänsehaut überzog ihre Arme. So samtig, wie er ihren Namen aussprach, klang er fast unanständig. Lag es in seiner Absicht, sie zu irritieren, oder war er sich dessen nicht bewusst?
„Nicht bewegen.“ Sie flüsterte beinah und konnte sein Lächeln eher fühlen als sehen, denn noch immer lag sein Gesicht im Schatten, während hinter ihm das Neonschild blinkte, als machte es sich über sie lustig. Und obwohl er nur ein Wort gesagt hatte, wirkte er plötzlich nicht mehr wie Beutegut, sondern wie ein Jäger. Seine entspannte Haltung war keine Nachlässigkeit, wie sie nun feststellte, sondern das Bewusstsein, dass er sie innerhalb eines Wimpernschlags entwaffnet und wie eine Brezel verdreht auf dem Bauch liegen hätte.
Auch wenn sie seine Augen nicht sehen konnte, fühlte sie seinen stechenden Blick, der sich wie ein Pfeil in ihren Geist bohrte. Sie zuckte wie unter einem Schlag zusammen, mit einem Mal kam sie sich entblößt vor. Der Bodengrund ihres Bewusstseins wirbelte wie Kaffeesatz durch ihren Geist – unterdrückte Erinnerungen lösten sich aus der Verankerung und bahnten sich einen Weg an die Oberfläche. Bilder, die sie lieber vergessen hätte, zogen in einer schaurigen Prozession an ihrem inneren Auge vorbei. Obschon sie nicht glaubte, dass jemand in ihren Kopf eindringen konnte, spürte sie instinktiv, dass genau das der
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