Jane Christo - Blanche - 01
Fall war. Dieser Jemand suchte gezielt nach Schwachpunkten. Zorn, Schuldgefühle und tief verankertem Schmerz.
Schmerz über die sadistischen Schwestern im Heim, die sich vorgenommen hatten, ihr den Teufel auszutreiben. Schmerz darüber, dass sie sie böses Blut genannt und immer wieder geschlagen hatten. Mit Stöcken, Gürteln, allem, das zufällig in Reichweite lag. Schmerz über den Verlust der Kindheit und dass sie mit acht Jahren keinen anderen Ausweg gesehen hatte als fortzulaufen, um auf der Straße zu leben. Mutterseelenallein in einer Stadt wie Paris. Schmerz über die Ermordung ihres einzigen Freundes Andrej, über Waynes Tod, der ihr Ein und Alles war, und selbst Schmerz darüber, dass sie es vorzog, nichts zu fühlen, statt sich der Vergangenheit zu stellen.
Ihr Hals wurde eng, ihr Atem beschleunigte sich.
Stopp!
Um sich zu beruhigen, biss sie sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. Nicht fühlen, mahnte sie sich erneut – anscheinend war das heute ihr Tagesmantra. Doch auf einmal wurde ihr die Waffe zu schwer und ihre Hände fingen an zu zittern. Verdammter Mist, diese Ratte stocherte in ihren Erinnerungen herum, sodass sie Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren. So einen Psychomüll konnte sie nicht gebrauchen, wie machte er das überhaupt?
Ihr Gegenüber nickte zu der SIG-Sauer. „Die brauchst du nicht, Blanche.“
Wenn er das sagte. Und warum zum Teufel sprach er ihren Namen aus, als würde er auf der Zunge schmelzen?
„Vertrauen ist nichts, was man auf Bestellung bekommt“, konterte sie, wobei sie gelassener klang, als sie sich fühlte. Dass dieser Fremde ihre schlimmsten Albträume heraufbeschwören konnte, machte sie nervös.
Er nickte bedächtig und überraschte sie mit seinen nächsten Worten. „Dann werde ich mir das verdienen müssen.“
Es war weniger, was er sagte, sondern wie. Als bedauerte er tatsächlich, dass sie ihm nicht vertraute und dass er alles dafür tun würde, um das zu ändern. Vorsichtig senkte sie die Waffe, nur ein wenig, die Mündung weiterhin auf ihn gerichtet. Zumindest konnte sie so das Zittern ihrer Hände besser kaschieren.
„Was zur Hölle haben Sie hier zu suchen?“ Schon merkwürdig, wie sich das Leben parodierte. Die gleiche Frage hatte sie sich vorhin an Waynes Grab gestellt.
Langsam beugte er sich vor, die Augen mit einer Intensität auf sie geheftet, dass es beinah wehtat. Endlich konnte sie einen Blick auf sein Gesicht werfen. Es war finster und schien nur aus Narben zu bestehen. Als hätte er unglaubliche Härten bestanden – und überlebt. Dennoch wirkte er nicht entstellt, im Gegenteil. Er besaß die Wangenknochen eines englischen Aristokraten, während ihm die Adlernase einen Hauch vom alten Rom verlieh. Dazu passten die aufmerksamen Raubvogelaugen, denen nichts zu entgehen schien. Rauchgrau wirkten sie, als würde ein Sturm aufziehen. Sein rabenschwarzes Haar fiel ihm ins Gesicht. Es sah wild aus, als hätte er Schwierigkeiten, es zu bändigen. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück und wunderte sich gleichzeitig über seine vollkommene Reglosigkeit, als wollte er sie nicht erschrecken.
Plötzlich schien es albern, ihn mit der Waffe zu bedrohen, darum senkte sie die SIG noch ein wenig mehr, bis sie auf Hüfthöhe war und die Mündung auf den Boden zielte. Sie war schussbereit, während er noch immer beide Hände auf dem Tisch liegen hatte.
„Wer sind Sie und was wollen Sie?“
„Ich möchte mich mit dir unterhalten, Blanche.“
„Worüber?“
„Über Wayne.“
„Er ist tot.“
„Ja.“ Sein dunkles Lächeln war voller Melancholie und ließ sie frösteln. Fast schien es, als müsste er sich erst daran erinnern, wie man lächelt. Vielleicht kam ihm der gleiche Gedanke, denn er ergänzte: „Es tut mir leid, Blanche.“
Zur Hölle, er sollte endlich damit aufhören, ihren Namen so anzüglich auszusprechen. Und sein geheucheltes Mitgefühl konnte er sich sonst wo hinstecken.
Fokussiere dich!
Sie hob die Waffe. „Okay, Freundchen. Du hast zwanzig Sekunden, mir zu sagen, warum du deinen Hintern in meine Küche gepflanzt hast. Und wenn mir deine Antwort nicht gefällt, bekommst du von mir ein drittes Auge verpasst, haben wir uns verstanden?“ Ihre Stimme war leise und entschlossen. Sie musste mit Leo reden, das hier dauerte bereits zu lang.
„Wayne hatte eine Abmachung mit meiner Firma“, begann er ebenso leise, ohne sie aus den Augen zu lassen.
Er blinzelte nicht einmal. Ob er ein Profi wie Wayne war,
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