Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
oberen Schlupfwinkel mit sich nehmend. Nur eine einzige Stunde von vierundzwanzig brachte sie mit den anderen Dienstboten unten in der Küche zu, die übrige Zeit saß sie in einem niedrigen, mit Eichenholz verkleideten Gemach des dritten Stockwerks und nähte. Vielleicht lachte sie auch in ihrer unheimlichen Weise vor sich hin – so einsam, so verlassen, wie ein Verbrecher in seiner Gefängniszelle.
Das Sonderbarste bei all diesem war aber, dass außer mirkeine Seele im ganzen Haus ihre Gewohnheiten zu bemerken oder sich über dieselben zu wundern schien. Niemand sprach über ihre Stellung oder ihre Beschäftigung; niemand bemitleidete sie wegen ihrer Vereinsamung. Einmal hörte ich einige Worte von einem Gespräch zwischen Leah und einer der Arbeiterinnen, in dem es um Grace ging. Leah hatte etwas gesagt, das ich nicht verstanden hatte, und die Arbeitsfrau hatte daraufhin bemerkt:
»Vermutlich bekommt sie einen hohen Lohn?«
»Ja«, sagte Leah, »ich wollte, der meine wäre ebenso hoch. Nicht, dass ich mich zu beklagen hätte – auf Thornfield Hall gibt es keinen Geiz –, aber ich bekomme noch nicht einmal ein Fünftel von der Summe, welche Mrs. Poole bekommt. Und sie legt viel auf die Seite. In jedem Quartal geht sie auf die Bank von Millcote. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie schon genug hätte, um unabhängig zu sein, wenn es ihr einmal einfallen sollte, aus dem Dienst zu gehen. Aber ich glaube, sie hat sich nun einmal schon an den Ort gewöhnt; und sie ist ja auch noch nicht vierzig Jahre alt und stark und kräftig und zu aller Arbeit verwendbar. Es ist doch noch zu früh für sie, um sich zur Ruhe zu setzen.«
»Sie ist eine gute Arbeiterin, wie ich mir denken kann«, sagte die Scheuerfrau.
»Ja, sie versteht ihre Arbeit, sie weiß, was sie zu tun hat. Keiner versteht es besser«, fiel Leah mit einer eigentümlichen Betonung ein. »Und nicht jeder wäre imstande, ihren Platz auszufüllen. Nicht einmal für all den Lohn, den sie bekommt.«
»Da haben Sie recht!«, lautete die Antwort. »Ich möchte doch wissen, ob der Herr …«
Die Tagelöhnerin wollte noch weitersprechen, aber hier wandte Leah sich um und ward meiner ansichtig. Augenblicklich gab sie ihrer Gefährtin einen Rippenstoß.
»Weiß sie es nicht?«, hörte ich die Frau flüstern.
Leah schüttelte den Kopf, und die Unterhaltung hatte ein Ende. Alles, was ich daraus entnommen hatte, war Folgendes: Es musste ein Geheimnis auf Thornfield geben, und ich war mit Absicht von der Mitwisserschaft dieses Geheimnisses ausgeschlossen.
Der Donnerstag kam; am Abend zuvor waren wir mit aller Arbeit fertig geworden: Die Teppiche waren ausgerollt, die Bettvorhänge aufgehängt, glänzend weiße Bettdecken ausgebreitet, Toiletten-Tische arrangiert, die Möbel poliert, Blumen in Vasen gesteckt. Auch die große Halle war gereinigt, die Stufen und Geländer der Treppe sowie die alte geschnitzte Standuhr waren so blank gerieben wie Glas; im Speisezimmer funkelte das Silberzeug auf der Kredenz; im Boudoir und Salon begegneten dem Auge überall Vasen mit exotischen Blumen.
Der Nachmittag kam. Mrs. Fairfax legte ihr bestes, schwarzes Satinkleid, ihre Handschuhe und ihre goldene Uhr mit Kette an, denn es oblag ihr, die Gesellschaft zu empfangen, die Damen in ihre Zimmer zu führen und dergleichen. Auch Adèle wollte angezogen werden, obgleich ich der Ansicht war, dass sie nur wenig Aussicht hatte, an diesem Tag noch der Gesellschaft vorgestellt zu werden. Jedoch, um ihr eine Freude zu machen, gestattete ich Sophie, ihr eines ihrer reichen, weißen Musselinkleider anzuziehen. Was mich anbetraf, so hatte ich nicht nötig, irgendeine Änderung an meiner Toilette vorzunehmen; von mir würde ja niemand verlangen, mein geheiligtes Schulzimmer zu verlassen – denn ein Sanktuarium war es jetzt für mich geworden, eine Zufluchtsstätte in Zeiten des Kummers.
Es war ein klarer, milder Frühlingstag gewesen, einer jener Tage, die sich gegen Ende März oder Anfang April strahlend über die Erde emporheben wie die Herolde des Sommers. Jetzt ging der Tag zu Ende, aber auch der Abend war warm, und ich saß mit meiner Arbeit am geöffneten Fenster des Schulzimmers.
»Es wird spät«, bemerkte Mrs. Fairfax, die in ihrem rauschenden Staat eintrat. »Ich bin nur froh, dass ich das Dinner eine Stunde später als zu der von Mr. Rochester angegebenen Zeit bestellt habe; es ist jetzt sechs Uhr vorüber. Ich habe John hinunter an die Parkpforte geschickt, ob auf der
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