Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
sicherlich brauche ich nicht zu gehen«, antwortete ich.
»Nun, ich bemerkte ihm gegenüber schon, dass ich kaum glaube, dass es Ihnen angenehm sei, vor einer so lustigen Gesellschaft zu erscheinen – noch dazu lauter Fremde –,weil Sie so wenig daran gewöhnt wären, unter Menschen zu gehen. Da antwortete er mir in seiner barschen Weise: ›Unsinn! Wenn sie Einwendungen macht, so sagen Sie ihr, dass es mein ganz besonderer Wunsch ist; und wenn sie dann noch widerspricht, so sagen Sie nur, dass ich kommen werde, sie im Falle des Ausbleibens zu holen.‹«
»Die Mühe werde ich ihm ersparen«, entgegnete ich. »Wenn es nicht anders geht, so werde ich erscheinen; aber es macht mir durchaus keine Freude. Werden Sie auch dort sein, Mrs. Fairfax?«
»Nein, ich entschuldigte mich, und er nahm meine Entschuldigung an. Ich werde Ihnen aber verraten, wie Sie das förmliche Eintreten vermeiden können, denn das ist das Unangenehmste bei der ganzen Sache: Sie müssen in den Salon gehen, während er leer ist und die Damen die Tafel noch nicht verlassen haben. Wählen Sie Ihren Platz in irgendeinem stillen Winkel, der Ihnen gefällt, und wenn es Ihnen nicht angenehm ist, brauchen Sie ja nicht mehr lange zu bleiben, nachdem die Herren hereingekommen sind. Wenn Mr. Rochester nur gesehen hat, dass Sie da sind, können Sie ja gleich fortschlüpfen – niemand wird Sie bemerken.«
»Glauben Sie, dass diese Leute lange hierbleiben?«
»Vielleicht zwei oder drei Wochen; gewiss nicht länger. Nach den Osterferien muss Sir George Lynn, der vor kurzem als Parlamentsmitglied für Millcote gewählt worden ist, nach London, um seinen Sitz einzunehmen. Es wundert mich, dass er seinen Aufenthalt auf Thornfield Hall schon so lange ausgedehnt hat. Vermutlich wird Mr. Rochester ihn begleiten.«
Mit einigem Zittern sah ich der Stunde entgegen, in welcher ich mich mit meiner Pflegebefohlenen in den Salon hinunterbegeben sollte. Adèle war während des ganzen Tages in einem Zustand der größten Erregung gewesen, nachdem sie gehört hatte, dass sie am Abend den Damenvorgestellt werden sollte, und erst als Sophie mit dem Ankleiden anfing, begann sie, sich ein wenig zu beruhigen. Dann nahm die Wichtigkeit dieser Prozedur sie bald gänzlich in Anspruch, und als sie endlich ihr Haar in glänzenden, tief herabwallenden Locken geordnet sah, ihr rosa Satinkleid angelegt hatte, ihre lange Schärpe geknüpft und die zarten Spitzenhandschuhe angezogen hatte, sah sie so ernst aus wie ein Richter. Es bedurfte nicht der Ermahnung, ihre Toilette nicht in Unordnung zu bringen; sie setzte sich ernst und behutsam auf ihren kleinen Stuhl. Dabei nahm sie sorgfältig ihr Satinröckchen auf, aus Furcht, es zu zerdrücken, und dann versicherte sie mir, dass sie sich nicht rühren werde, bevor ich nicht bereit sei. Das war ich allerdings schnell: Mein bestes Kleid – das silbergraue, das ich für Miss Temples Hochzeit gekauft und seitdem niemals wieder getragen hatte – war bald angelegt, und mein Haar zu ordnen, nahm wenig Zeit in Anspruch. Schließlich nahm ich noch die Perlenbrosche, den einzigen Schmuckgegenstand, welchen ich besaß, und wir gingen hinunter.
Glücklicherweise gab es noch einen anderen Eingang in den Salon als jenen durch den Speisesaal, in welchem alle Gäste beim Dinner saßen. Wir fanden das Gemach leer. Im Marmorkamin brannte ein großes Feuer, und zwischen den seltenen, duftenden Blumen, mit denen die Tische geschmückt waren, leuchteten Wachskerzen in fröhlicher Einsamkeit. Der feuerrote Vorhang wallte vom hohen Türbogen herab. Wie dünn dieser Stoff auch sein mochte, der uns von der Gesellschaft im Saal nebenan trennte, so drang von ihrer Konversation doch nichts zu uns heraus als ein ruhiges, halblautes Murmeln.
Adèle, von der Feierlichkeit der Situation eingeschüchtert, setzte sich, ohne zu sprechen, auf den Fußschemel, den ich ihr bezeichnete. Ich zog mich in eine Fenstervertiefung zurück, nahm ein Buch vom nächsten Tisch und bemühte mich zu lesen. Adèle brachte ihren Schemel und setzte sichmir zu Füßen; nach einer kurzen Weile berührte sie mein Knie.
»Was willst du, Adèle?«
»Est-ce que je ne puis pas prendre une seule de ces fleurs magnifiques, Mademoiselle? Seulement pour compléter ma toilette?«
»Du denkst viel zu viel an deine
toilette
, Adèle, aber ich will dir trotzdem eine Blume geben.« Und ich nahm eine Rose aus einer der Vasen und steckte sie in ihre Schärpe. Sie stieß einen befriedigten Seufzer
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