Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
mit ganz besonderem Interesse. Erstens wünschte ich zu sehen, ob ihre Erscheinung mit Mrs. Fairfax’ Beschreibung übereinstimmte, zweitens, ob sie dem Phantasie-Miniaturbildchen ähnlich wäre, welches ich von ihr gemalt hatte, und drittens – es muss heraus! –, ob sie so sei, wie ich glaubte, dass sie sein müsse, um Mr. Rochesters Geschmack zu entsprechen.
Soweit es ihre äußere Erscheinung betraf, glich sie Punkt für Punkt sowohl meinem Bild wie Mrs. Fairfax’ Beschreibung. Die edle Büste, die runden Schultern, der graziöse Nacken, die dunklen Augen und die schwarzen Locken: Alles war da. Aber ihr Gesicht? Ihr Gesicht war dem ihrer Mutter ähnlich, eine jugendliche Ähnlichkeit ohne Falten – dieselbe Stirn, dieselben Züge, derselbe Stolz. Es war indessen kein so strenger Stolz, denn sie lachte unaufhörlich. IhrLachen aber war spöttisch-überheblich, und das war auch der gewöhnliche Ausdruck ihrer geschwungenen, hochmütigen Lippen.
Man sagt, dass das Genie selbstbewusst sei: Ich weiß nicht, ob Miss Ingram ein Genie war, aber sie war selbstbewusst, wirklich außergewöhnlich selbstbewusst. Sie begann mit der sanften Mrs. Dent ein Gespräch über Botanik. Es scheint, dass Mrs. Dent diese Wissenschaft nicht studiert hatte, obgleich sie, wie sie sagte, die Blumen liebte, »besonders die Feldblumen«. Miss Ingram war indessen schon tiefer in dieses Thema eingedrungen und prunkte mit einer Fülle von Fachbegriffen. Ich merkte sofort, dass sie sich damit über Mrs. Dent lustig machte und über ihre Unwissenheit spottete. Ihre Art, dies zu tun, mochte geistreich sein, aber es war entschieden nicht gutmütig. Sie spielte Klavier, und ihre Technik war brillant; sie sang, und ihre Stimme war prächtig; sie sprach nebenbei französisch mit ihrer Mama, und sie sprach es gut, fließend und mit trefflichem Akzent.
Mary hatte ein milderes und offenherzigeres Gesicht als Blanche, ihre Züge waren sanfter und ihre Haut um einige Nuancen heller – Miss Ingram war dunkel wie eine Spanierin. Aber Mary mangelte der Ausdruck, ihr Gesicht hatte keine Lebendigkeit, ihr Auge keinen Glanz; sie wusste nichts zu sagen, und wenn sie einmal ihren Sitz eingenommen hatte, blieb sie ruhig wie eine Statue in ihrer Nische. Die Schwestern waren beide in makelloses Weiß gekleidet.
Und glaubte ich nun, dass Miss Ingram die Wahl sei, welche Mr. Rochester möglicherweise treffen würde? Ich wusste es selbst nicht – ich kannte ja seinen Geschmack in Bezug auf weibliche Schönheit nicht. Wenn er das Majestätische liebte, so war sie der Inbegriff der Majestät. Außerdem war sie gebildet und lebhaft. Die meisten Männer mussten sie einfach bewundern, meinte ich, und dass
er
sie bewunderte, dafür glaubte ich bereits Beweise zu haben. Um den letztenSchatten eines Zweifels zu beheben, blieb mir nur noch übrig, beide zusammen zu sehen.
Du darfst nicht glauben, lieber Leser, dass Adèle während all dieser Zeit bewegungslos auf ihrem Schemel zu meinen Füßen ausgeharrt hätte. Nein, als die Damen eintraten, erhob sie sich, ging ihnen entgegen, machte eine sittsame Verbeugung und sagte mit dem größten Ernst:
»Bonjour, Mesdames.«
Und Miss Ingram hatte mit spöttischer Miene auf sie niedergeblickt und ausgerufen: »Oh, welch ein Püppchen!«
Lady Lynn hatte bemerkt: »Vermutlich ist es Mr. Rochesters Mündel – das kleine französische Mädchen, von dem er uns erzählt hat.«
Mrs. Dent hatte sie freundlich bei der Hand genommen und ihr einen Kuss gegeben. Amy und Louisa Eshton hatten gleichzeitig ausgerufen: »Welch ein reizendes Kind!«
Und dann hatten sie sie auf ein Sofa genommen, wo sie jetzt saß, von beiden eingeschlossen, und abwechselnd französisch und gebrochen englisch sprach. Adèle nahm nicht allein die Aufmerksamkeit der jungen Damen in Anspruch, sondern auch jene von Mrs. Eshton und Lady Lynn, und sie ließ sich nach Herzenslust verwöhnen.
Endlich wird der Kaffee gebracht, und man ruft die Herren. Ich sitze im Schatten, wenn es in einem hell erleuchteten Zimmer überhaupt einen Schatten gibt. Der Fenstervorhang verbirgt mich zur Hälfte. Wiederum gähnt der weite Türbogen: Sie kommen. Der versammelte Eintritt der Herren ist ebenso imposant, wie jener der Damen. Sie sind alle in Schwarz gekleidet; die meisten von ihnen sind groß, einige jung. Henry und Frederick Lynn sind in der Tat sehr schneidige Burschen. Und Colonel Dent ist ein schöner, militärisch aussehender Mann. Mr. Eshton, der Magistrat des
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