Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
keinen blühenden Teint sehen. Meine Freundin würde sich dann bleich und ruhig zu mir wenden und sagen: ›Nein, Sir, das ist unmöglich, ich kann das nicht tun, weil es Unrecht wäre.‹ Und sie würde unbeweglich bleiben wie ein Fixstern. Nun, auch Sie haben Macht über mich und könnten mir Schaden zufügen; aber ich wage nicht, Ihnen die Stelle zu zeigen, wo ich verwundbar bin, aus Furcht, dass Sie mich, treu und freundlich wie Sie sind, auf der Stelle durchbohren könnten.«
»Wenn Sie nicht mehr von Mr. Mason zu fürchten haben als von mir, Sir, dann sind Sie wahrlich sicher.«
»Gott gebe, dass es so ist! – Hier, Jane, ist eine Laube, setzen wir uns.«
Die Laube war ein dicht mit Efeu bewachsener Bogen in der Mauer; eine einfache, ländliche Bank stand darin. Mr. Rochester setzte sich und ließ für mich ausreichend Platz. Ich setzte mich aber nicht, sondern blieb vor ihm stehen.
»Setzen Sie sich«, sagte er, »die Bank hat Raum für uns beide. Zögern Sie denn, an meiner Seite Platz zu nehmen? Ist das auch unrecht, Jane?«
Ich antwortete ihm, indem ich mich setzte. Ihm seinen Wunsch abzuschlagen, wäre unklug gewesen; das fühlte ich.
»Und jetzt, meine kleine Freundin – während die Sonne den Tau trinkt, während all die Blumen in diesem altmodischen Garten zum Leben erwachen und sich öffnen, die Vögel ihren Jungen das Frühstück vom Kornfeld holen und die emsigen Bienen an ihre Arbeit gehen –, jetzt will ich Ihnen einen Fall vorlegen, und Sie müssen versuchen, sich in diesen hineinzuversetzen. Zuerst blicken Sie mich aber an und sagen Sie mir, dass Sie sich nicht unbehaglich fühlenund dass es nicht falsch von mir ist, Sie hier festzuhalten; und ebenso, dass es nicht falsch von Ihnen ist, hierzubleiben.«
»Nein, Sir. Ich fühle mich wohl hier.«
»Also gut, Jane, rufen Sie Ihre Phantasie zu Hilfe: Nehmen Sie mal an, dass Sie nicht mehr ein wohlerzogenes, gebildetes Mädchen wären, sondern ein wilder Knabe, der seit seiner Kindheit nur seinen eigenen Willen gekannt hat. Versetzen Sie sich in ein fremdes, fernes Land und nehmen Sie an, dass Sie dort einen großen Fehler begehen, gleichgültig welcher Art oder aus welchen Beweggründen, aber einen Fehler, dessen Konsequenzen Ihnen durch Ihr ganzes Leben folgen und Ihre ganze Existenz vernichten. Merken Sie wohl auf, ich sage nicht:
ein Verbrechen
. Ich spreche nicht von Blutvergießen oder irgendeiner anderen Schuld, welche den Täter dem Gesetz verfallen ließe, nein, mein Wort ist
Fehler
.
Die Folgen Ihrer Tat werden Ihnen mit der Zeit vollständig unerträglich; Sie ergreifen Maßregeln, um Ihre Lage zu erleichtern – ungewöhnliche Maßregeln, in der Tat, aber sie sind weder ungesetzlich noch verdammenswert. Und doch sind Sie tief elend, denn die Hoffnung verließ Sie schon, als Ihr Leben kaum begann. Ihre Sonne wird schon um die Mittagszeit durch eine Finsternis verdunkelt, welche – das ahnen Sie – bis zum Sonnenuntergang anhalten wird. Bittere, niedere Gedanken sind das Einzige, wovon Ihre Erinnerung zehren kann. Sie wandern hierhin und dorthin. Sie suchen Ruhe in der freiwilligen Verbannung, Glück im Vergnügen – ich meine, im herzlosen, sinnlichen Vergnügen, das den Verstand einschläfert und das Gefühl abstumpft. Nach langen Jahren des freiwilligen Exils kehren Sie heim, müde im Herzen, leer in der Seele. Sie machen eine neue Bekanntschaft – wie oder wo ist gleichgültig. In diesem fremden Wesen finden Sie all jene guten, glänzenden Eigenschaften, die Sie seit zwanzig Jahren suchten und niemalsfanden; hier ist alles frisch, gesund, ohne Flecken und ohne Makel. Dieser Verkehr belebt Sie wieder, er lässt Sie neu geboren werden. Sie fühlen, wie wieder glücklichere Tage anbrechen, sie hegen wieder reinere Gefühle und edlere Wünsche. Sie haben das Verlangen, Ihr Leben von vorn zu beginnen und den Rest Ihrer Tage in einer Weise zu verbringen, die eines unsterblichen Wesens würdig ist.
Und um dies zu erreichen – sind Sie berechtigt, ein Hindernis, das im Hergebrachten liegt, zu übersteigen? Ein nur konventionelles Hindernis, das weder durch Ihr Gewissen geheiligt, noch durch Ihr gesundes Urteilsvermögen gebilligt wird?«
Hier hielt er inne und wartete auf eine Antwort. Was aber sollte ich sagen? Oh, war denn kein guter Geist da, mir eine vernünftige und zugleich befriedigende Antwort einzugeben? Eitler Wunsch! Der Westwind flüsterte in den herabhängenden Efeuranken, aber kein sanfter Engel Ariel nützte ihn
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