Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
prächtiges Schloss, Sir.«
»Ihre Augen sind durch mangelnde Erfahrung noch geblendet«, entgegnete er. »Sie sehen es durch einen Zauberspiegel; Sie können nicht erkennen, dass das Gold bloßer Schlamm und die seidenen Draperien nichts als Spinnweben sind, der Marmor nur elender Schiefer und das kostbar polierte Holz nur Späne und gemeine Baumrinde. Aber
hier
– damit deutete er auf eine baumbestandene Einfriedung, die wir soeben betraten –, hier ist alles schön, alles rein, alles wirklich!«
Er schlenderte einen Fußpfad hinunter, der mit Buchsbaum eingefasst war. Auf der einen Seite standen Apfel-, Birn- und Kirschbäume, auf der anderen Seite gab es Beete, auf denen alle möglichen altmodischen Blumen wie Levkojen,Feldrosen, Schlüsselblumen oder Stiefmütterchen wuchsen, dazwischen Stabwurz, Feldrosen und allerlei duftende Kräuter. Dies alles war so frisch und farbenprächtig, wie eine ganze Reihe von Aprilschauern es nur hervorbringen konnte, auf die ein lieblicher Frühlingsmorgen folgt. Die Sonne stieg majestätisch am Horizont empor, und ihr Licht strahlte auf den taufrischen Obstgarten und seine stillen, lauschigen Wege herab.
»Jane, wollen Sie eine Blume?«
Er pflückte eine halb geöffnete Rose, die erste an ihrem Strauch, und reichte sie mir.
»Ich danke Ihnen, Sir.«
»Finden Sie diesen Sonnenaufgang schön, Jane? Jenen Himmel mit seinen hohen, leichten, lustigen Wolken, die sich zerstreuen werden, wenn der Tag älter wird – diese klare, balsamgleiche Luft?«
»Ja, Sir, sehr sogar.«
»Dies war eine seltsame Nacht, Jane.«
»Ja, Sir.«
»Und sie hat Sie bleich gemacht. Fürchteten Sie sich, als ich Sie mit Mason allein ließ?«
»Ich fürchtete nur, dass jemand aus dem inneren Zimmer kommen könnte.«
»Aber Sie hatten doch gesehen, wie ich die Tür verschloss. Den Schlüssel trug ich in der Tasche. Ich wäre ein pflichtvergessener Hirte gewesen, wenn ich ein Lamm – mein Lieblingslamm – unbehütet so nahe bei der Wolfshöhle gelassen hätte. Nein, Sie waren in Sicherheit.«
»Wird Grace Poole noch länger hier im Haus bleiben, Sir?«
»O gewiss! Aber zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über sie, vergessen Sie das alles.«
»Und doch will mir scheinen, dass Sie Ihres Lebens nicht sicher sind, solange sie hier im Hause weilt.«
»Keine Sorge, ich passe schon auf mich auf.«
»Und ist die Gefahr, welche Sie gestern Abend fürchteten, vorübergegangen, Sir?«
»Dafür kann ich erst bürgen, wenn Mason England wieder verlassen haben wird. Jane, mein Leben ist das Leben auf einem Vulkan, der jeden Augenblick Feuer speien und mich verschlingen kann.«
»Aber Sir, Mr. Mason scheint doch ein Mann zu sein, der sich leicht leiten lässt. Ihr Einfluss scheint bei ihm allmächtig zu sein. Er wird Ihnen niemals trotzen oder Sie wissentlich zu schädigen suchen.«
»O nein, Mason wird mir niemals trotzen oder mir mit Wissen und Willen Schaden zufügen – aber unabsichtlich könnte er mich in einem einzigen Augenblick durch ein unüberlegtes Wort, wenn auch nicht um das Leben selbst, so doch um das ganze Glück meines Lebens bringen.«
»Sagen Sie ihm doch, vorsichtig zu sein, Sir. Lassen Sie ihn wissen, was Sie fürchten und zeigen Sie ihm, wie die Gefahr abgewendet werden kann.«
Er lachte ironisch, ergriff hastig meine Hand und schleuderte sie ebenso hastig wieder von sich.
»Wenn ich dies tun könnte, o Einfalt, wo wäre dann die Gefahr? In einem Augenblick wäre sie vernichtet! Seit ich Mason kenne – und das ist schon eine lange Zeit –, habe ich ihm nur sagen müssen: ›Tue das!‹, und die Sache wurde getan. Aber in diesem Fall kann ich ihm nichts befehlen, ich kann ihm nicht sagen: ›Hüte dich davor, mir Schaden zuzufügen, Richard!‹, denn es ist durchaus notwendig, dass er niemals erfährt, es liege in seiner Macht, mich unglücklich zu machen. Nun sind Sie verwirrt – und ich werde Sie noch weiter verwirren. Sie sind doch meine kleine Freundin, nicht wahr, Jane?«
»Ich diene Ihnen gern, Sir, und gehorche Ihnen in allem, was recht ist.«
»In der Tat! Ich sehe, dass dem so ist. Ich sehe aufrichtige Zufriedenheit in Ihrer Miene und Haltung, in Ihren Augenund Ihrem Gesicht, wenn Sie mir helfen – wenn Sie für mich und mit mir arbeiten bei ›allem, was recht ist‹, wie Sie so bezeichnend sagen. Denn wenn ich etwas von Ihnen verlangte, was unrecht wäre, so würde ich wohl kein flinkes Laufen, keine bereitwillige Eilfertigkeit, keinen lebhaften Blick und
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