Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
als Medium seiner Worte; die Vögel sangen in den Baumkronen, aber wie süß ihr Gesang auch klang, er war unverständlich.
Mr. Rochester begann von Neuem:
»Ist der ruhelose, sündhafte, jetzt aber Ruhe suchende und reuige Mann berechtigt, der Meinung der Welt zu trotzen, indem er für alle Zeiten jenes gute, sympathische, liebevolle, fremde Wesen an sich fesselt und damit seinen eigenen Seelenfrieden und die Erneuerung seines Lebens sichert?«
»Sir«, entgegnete ich, »die Ruhe eines Irrenden, die Bekehrung eines Sünders sollte niemals von einem Mitmenschen abhängig sein dürfen. Männer und Frauen sterben. Philosophen fehlen in ihrer Weisheit, Christen irren in ihrer Güte. Wenn ein Mensch, den Sie kennen, gefehlt und gelitten hat, so lassen Sie ihn höher hinaufblicken als zu seinen Nebenmenschen; Trost und Heilung für seine Wunden, Kraft für seine Umkehr wird von oben herabkommen.«
»Aber das Werkzeug – das Werkzeug! Gott, der das Werk tut, wählt das Werkzeug. Ich selbst war ein weltlich gesinnter, ruheloser, verschwenderischer Mann – dies sage ich Ihnen, ohne in Gleichnissen zu sprechen –, und ich glaube, dass ich das Werkzeug für meine Bekehrung gefunden habe in …«
Er hielt inne. Die Vögel fuhren fort zu zwitschern und die Blätter rauschten über unseren Köpfen. Etwas wie Erstaunen kam über mich, dass nicht auch sie ihr Zwitschern und Rauschen einstellten, um jene unterbrochene Offenbarung zu hören. Aber sie hätten viele Minuten warten müssen, denn so lange dauerte das Schweigen.
Endlich blickte ich zu dem zögernden Sprecher auf: Er sah mich erwartungsvoll an.
»Kleine Freundin«, sagte er in gänzlich verändertem Ton. Und auch sein Gesicht veränderte sich, es verlor die Würde und Güte und wurde herausfordernd und sarkastisch. »Sie haben meine zärtliche Neigung für Miss Ingram bemerkt: Glauben Sie nicht, dass sie sich, wenn ich sie heiratete, tüchtig anstrengen würde, einen neuen Menschen aus mir zu machen?«
Dann sprang er plötzlich auf und ging schnell bis an das äußerste Ende des Fußpfades. Als er zu mir zurückkam, summte er ein Lied.
»Jane, Jane«, sagte er, vor mir stehenbleibend, »die Nachtwache hat Sie ganz bleich gemacht. Verwünschen Sie mich nicht, weil ich Ihre Ruhe gestört habe?«
»Sie verwünschen? Nein, Sir.«
»Geben Sie mir die Hand zur Bekräftigung Ihrer Worte. – Wie kalt diese kleine Hand ist! Sie war wärmer, als ich sie gestern Abend an der Tür des geheimnisvollen Zimmers berührte … Jane, wann werden Sie wieder mit mir wachen?«
»Wann immer ich Ihnen damit nützlich sein kann, Sir.«
»Zum Beispiel in der Nacht vor meiner Hochzeit, dann werde ich sicher nicht imstande sein zu schlafen. Wollen Sieversprechen, dann mit mir aufzubleiben und mir Gesellschaft zu leisten? Mit Ihnen kann ich von meiner Geliebten reden, denn Sie haben sie gesehen und kennen sie.«
»Ja, Sir.«
»Nicht wahr, Jane, sie ist ein seltenes Geschöpf?«
»Ja, Sir.«
»Stämmig, wirklich stämmig, Jane. Groß, braun und drall. Mit Haaren, wie die Frauen von Karthago sie gehabt haben müssen. – Gott sei mir gnädig: Dent und Lynn sind schon in den Ställen! Gehen Sie durch die Sträucher und durch das Tor!«
Während ich auf dem einen Weg davonging, schlug er einen anderen ein, und ich hörte noch, wie er laut und fröhlich im Hofe rief: »Mason ist euch allen heute früh zuvorgekommen, noch vor Sonnenaufgang ist er los. Ich bin um vier Uhr aufgestanden, um ihm Lebewohl zu sagen.«
Einundzwanzigstes Kapitel
Vorahnungen sind seltsame Dinge! Und ebenso Seelenverwandtschaften oder Vorzeichen – alle drei zusammen bilden ein Geheimnis, zu dem die Menschheit den Schlüssel noch nicht gefunden hat. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht über Vorahnungen lachen können, denn ich habe selbst sehr eigentümliche erlebt. Und ich glaube auch, dass Seelenverwandtschaften existieren: Sympathien, deren Wirkungen weit über unser Begriffsvermögen hinausgehen. Weit voneinander entfernte, lange getrennte Verwandte zum Beispiel, die einander schon seit geraumer Zeit entfremdet sind, lassen dessen ungeachtet ja auch immer noch den gemeinsamen Ursprung erkennen. Und Vorzeichen sind vielleicht – wissen wir es denn? – die Sympathien, welche die Natur mit dem Menschen hat.
Als ich ein kleines Mädchen von kaum sechs Jahren war,hörte ich eines Abends, wie Bessie Leaven zu Martha Abbot sagte, ihr habe von einem kleinen Kinde geträumt, und es sei eine sichere
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