Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
hinterlassen. Sie müssen also doch auch Vettern und Cousinen haben. Sir George Lynn sprach gestern von einem Reed von Gateshead, der, wie er sagte, einer der verkommensten Menschen von London sei; und Ingram erwähnte eine Miss Georgiana Reed aus demselben Hause, eine berühmte Schönheit, die in der letzten oder vorletzten Saison in London großes Aufsehen gemacht hat.«
»John Reed ist jetzt ebenfalls tot, Sir. Er hat sich selbst zugrunde gerichtet und seine Familie zur Hälfte mit in diesen Ruin hineingezogen. Man vermutet, dass er Selbstmord begangen hat. Diese Nachricht erschütterte seine Mutter so sehr, dass sie einen Schlaganfall erlitten hat.«
»Und was können Sie ihr da nützen? Unsinn, Jane! Es würde mir niemals in den Sinn kommen, hundert Meilen zu reisen, um eine alte Dame zu sehen, die möglicherweise schon tot ist, wenn man am Bestimmungsort ankommt. Außerdem erzählten Sie mir ja soeben, dass sie Sie verstoßen hat.«
»Ja, Sir, aber das ist schon so lange her. Damals lagen die Verhältnisse auch noch ganz anders. Ich würde niemals wieder Ruhe finden, wenn ich ihren Wunsch jetzt unberücksichtigt ließe.«
»Wie lange werden Sie fortbleiben?«
»So kurze Zeit wie irgend möglich, Sir.«
»Versprechen Sie mir, nur eine Woche wegzubleiben.«
»Ich kann Ihnen das nicht mit Sicherheit versprechen, wenn ich Ihnen mein Wort gäbe, könnte ich doch vielleicht gezwungen sein, es zu brechen.«
»Aber auf jeden Fall werden Sie zurückkommen! Versprechen Sie mir, sich unter keinen Umständen bewegen zu lassen, dauerhaft bei ihr Wohnung zu nehmen?«
»O nein! Ich werde zurückkehren, sobald alles in Ordnung ist.«
»Und wer begleitet Sie? Hoffentlich denken Sie nicht daran, die hundert Meilen allein zu reisen?«
»Nein Sir. Sie hat ihren Kutscher geschickt.«
»Ein vertrauenswürdiger Mensch?«
»Ja, Sir, er lebt seit zehn Jahren in der Familie.«
Mr. Rochester sann nach.
»Und wann beabsichtigen Sie abzureisen?«
»Morgen in aller Frühe, Sir.«
»Gut. Aber Sie brauchen Geld. Sie können unmöglich ohne Geld reisen, und ich glaube kaum, dass Sie noch viel besitzen. Sie haben von mir noch kein Gehalt bekommen. Wie viel besitzen Sie noch in dieser Welt, Jane?«, fragte er, gutmütig lächelnd.
Ich zog meine Börse hervor; sie war allerdings ein mageres Ding. »Fünf Schilling, Sir.«
Er nahm mir die Börse aus der Hand, schüttete sich den ganzen Inhalt in die Hand und lachte, als gewähre diese armselige Summe ihm eine ganz besondere Freude. Gleich darauf zog er seine Brieftasche hervor:
»Hier«, sagte er, und bot mir eine Banknote. Es waren fünfzig Pfund, aber er schuldete mir nur fünfzehn. Ich sagte ihm, dass ich die Note nicht wechseln könne.
»Sie brauchen auch nicht zu wechseln, das wissen Sie. Nehmen Sie Ihr Gehalt.«
Ich weigerte mich, mehr anzunehmen, als ich rechtmäßig zu fordern hatte. Er runzelte die Stirn. Endlich sagte er, als ob ihm plötzlich ein Gedanke gekommen wäre:
»Ja, ja, ganz recht! Es ist besser, wenn ich Ihnen jetzt nicht alles gebe. Wenn Sie fünfzig Pfund hätten, würden Sie am Ende drei Monate fortbleiben. Hier haben Sie zehn, ist das ausreichend?«
»Ja, Sir. Aber jetzt sind Sie mir noch fünf Pfund schuldig.«
»Sie können wiederkommen, um diese einzukassieren. Sie haben jetzt bei mir, Ihrem Bankier, vierzig Pfund gut.«
»Mr. Rochester, da sich mir jetzt gerade Gelegenheit dazu bietet: Kann ich gleich noch von einer anderen Geschäftsangelegenheit mit Ihnen sprechen?«
»Geschäftsangelegenheit? Da bin ich doch neugierig.«
»Sie haben mir in ziemlich klaren Worten mitgeteilt, Sir, dass Sie sich binnen kurzem verheiraten werden.«
»Nun ja. Was weiter?«
»In diesem Falle, Sir, müsste Adèle doch in eine Schule geschickt werden. Ich bin überzeugt, dass auch Sie diese Notwendigkeit einsehen.«
»Damit sie meiner Braut aus dem Weg ist, welche sie sonst zu nachdrücklich schikanieren würde? Dieser Vorschlag ist sinnvoll, ohne Zweifel. Adèle wird, wie Sie sagen, in eine Schule müssen. Und Sie gehen dann natürlich geradewegs – zum Teufel?«
»Das hoffe ich nicht, Sir, aber ich werde mir eine andere Stellung suchen müssen.«
»Zu gegebener Zeit!«, rief er aus, in so scharfem Ton und mit derart verzerrtem Gesicht, das es zugleich komisch und tragisch war. Dann blickte er mich eine Weile an.
»Und vermutlich werden Sie die alte Madam Reed oder ihre Töchter ersuchen, Ihnen eine Stellung zu finden?«
»Nein, Sir. Ich stehe mit
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