Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
ruhiger.«
Ich erhob mich. »Halt!«, rief Mrs. Reed aus. »Ich habe noch etwas anderes zu sagen. Er droht mir – er droht mir unaufhörlich mit seinem Tode oder dem meinen. Und zuweilen träumt mir, dass ich ihn mit einer großen Wunde im Hals oder mit einem geschwollenen, schwarzen Gesicht sehe. Es ist gar seltsam mit mir gekommen.
Ich habe große Sorgen. Was ist zu tun? Woher soll das Geld kommen …«
Bessie versuchte sie zu überreden, das Beruhigungsmittel zu nehmen; nur mit großer Mühe gelang es ihr. Gleich darauf wurde Mrs. Reed ruhiger und sank in eine Art von Halbschlaf. Ich verließ sie.
Mehr als zehn Tage vergingen, bevor ich wieder ein Gespräch mit ihr hatte. Sie lag entweder im Delirium oder in Lethargie, und der Doktor verbot alles, was sie erregen könnte. Inzwischen stellte ich mich mit Eliza und Georgiana so gut es eben gehen wollte. Anfangs waren sie in der Tat sehr kalt. Eliza pflegte halbe Tage hindurch dazusitzen und zu nähen, zu schreiben oder zu lesen, ohne auch nur eine einzige Silbe mit ihrer Schwester oder mir zu sprechen. Georgiana konnte stundenlang Unsinn mit ihrem Kanarienvogel schwatzen, ohne mich auch nur im Entferntesten zu beachten. Aber ich war entschlossen, es mir nicht an Zerstreuung oder Beschäftigung fehlen zu lassen; ich hatte meine Zeichen- und Malutensilien mitgebracht, und diese verschafften mir beides.
Mit verschiedenen Stiften und einigen Bogen Papier versehen, pflegte ich mich abseits von ihnen in die Nähe eines Fensters zu setzen und mich damit zu beschäftigen, Phantasievignetten zu zeichnen, indem ich jedes Bild zu Papier brachte, das sich mir in dem fortwährend wechselnden Kaleidoskop meiner Einbildungskraft darbot: ein Blick auf die See zwischen zwei Felsen hindurch; der aufgehende Mond und ein Schiff, das an seiner Scheibe vorübersegelt; eine Gruppe von Schlingpflanzen und Wasserlilien, aus welcher der Kopf einer mit Lotusblumen gekrönten Najade emportaucht; eine Elfe, die unter einem Kranz von wilden Rosen aus dem Nest einer Heckenbraunelle hervorschaut.
Eines Morgens war mir danach, ein Gesicht zu skizzieren. Ich wusste selbst nicht recht, was für ein Gesicht es werden sollte. Ich nahm einen weichen, schwarzen Stift, gab ihm eine breite Spitze und arbeitete drauflos. Bald hatte ich eine breite, hervortretende Stirn auf das Papier geworfen,die Linien der unteren Gesichtshälfte waren scharf und eckig. Diese Konturen machten mir Freude, und geschäftig machten meine Finger sich daran, die übrigen Züge hineinzuzeichnen. Scharf markierte, horizontale Augenbrauen mussten unter die Stirn gesetzt werden, dann folgte natürlich eine schön gezeichnete Nase mit geradem Rücken und weiten Nasenlöchern und ein großer aber biegsamer Mund sowie ein festes Kinn, das in der Mitte gespalten war. Jetzt brauchte ich noch einen schwarzen Backenbart und kohlschwarzes Haar, das sich wollig an Stirn und Schläfen schmiegte. Und nun die Augen. Ich hatte sie bis zuletzt gelassen, weil sie die sorgsamste Ausführung verlangten. Ich zeichnete sie groß und formte sie schön; die Augenwimpern wurden lang und dunkel, die Iris glänzend und groß. ›Sehr gut, aber noch nicht besonders ähnlich‹, sagte ich zu mir selbst, als ich die Wirkung des Ganzen betrachtete: ›Die Augen brauchen mehr Kraft und Geist.‹ Und ich machte den Schatten noch dunkler, damit das Licht mehr zur Geltung kam – ein oder zwei glückliche Striche waren hier von bester Wirkung. So, jetzt hatte ich das Gesicht eines Freundes vor meinen Augen. Was bedeutete es dann noch, dass jene beiden jungen Damen mir den Rücken wandten? Ich sah die Zeichnung an, ich lächelte über die frappierende Ähnlichkeit und war zugleich gefesselt und zufrieden.
»Ist es das Porträt eines Menschen, den Sie kennen?«, fragte Eliza, welche unbemerkt an mich herangetreten war. Ich entgegnete, dass es nur ein Phantasiekopf sei und schob die Zeichnung eilig unter die anderen Blätter. Natürlich sprach ich die Unwahrheit, denn es war ein sehr getreues Porträt Mr. Rochesters. Aber was ging sie das an? Auch Georgiana kam, um einen Blick auf meine Blätter zu werfen. Die anderen Zeichnungen gefielen ihr ganz gut, aber die eine nannte sie »einen hässlichen Kerl«. Beide schienen von meiner Geschicklichkeit jedoch sehr überrascht. Ich erbot mich, auch ihre Porträts zu zeichnen, und jede saß mirzu einer Bleistiftskizze. Schließlich brachte Georgiana ihr Album. Ich versprach ihr ein Aquarell für dasselbe, und sie war
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