Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
gelähmt sein würde. Sobald ich mich rühren kann, werde ich umkehren; ich muss mich doch nicht zum Narren machen! Es gibt schließlich noch einen anderen Weg zum Haus … Aber schon spielt es keine Rolle mehr, ob ich einen oder zwanzig andere Wege kenne: Er hat mich bereits gesehen.
»Hallo!«, ruft er, und hält Buch und Stift in die Höhe. »Da sind Sie ja! Kommen Sie nur, wenn Sie mögen!«
Vermutlich gehe ich zu ihm, obgleich ich nicht weiß, wie dies geschieht. Ich habe kein Bewusstsein von dem, was ich tue. Ich bin nur bestrebt, ruhig zu erscheinen und vor allen Dingen die erregten Muskeln meines Gesichts zu beherrschen, die energisch gegen meinen Willen rebellieren und gerne zum Ausdruck bringen möchten, was ich mit Aufwand all meiner Kräfte verbergen will. Aber ich habe ja einen Schleier – nun ist er herabgezogen. Vielleicht gelingt es mir doch noch, mit anständiger Fassung zu erscheinen.
»Ist dies Jane Eyre? Kommen Sie zu Fuß von Millcote? Anscheinend wieder einer Ihrer Streiche! Nicht nach dem Wagen schicken und stattdessen über Stock und Stein dahergeklettert kommen, wie eine gewöhnliche Sterbliche! Sich in der Dämmerstunde in die Nähe Ihres Hauses schleichen,gerade als ob Sie ein Traumgebilde oder ein Schatten wären! Was zum Teufel haben Sie während des letzten Monats gemacht?«
»Ich war bei meiner Tante, Sir, die gestorben ist.«
»Das ist wieder eine Antwort à la Jane Eyre. Ihr Engel steht mir bei! Sie kommt aus der anderen Welt, aus dem Domizil von Leuten, die gestorben sind – und das erzählt sie mir, während sie mich hier allein in der Dämmerung trifft! Wenn ich den Mut hätte, würde ich Sie anrühren, um zu sehen, ob Sie Schatten oder Wirklichkeit sind, Sie Elfe! Aber geradeso gut könnte es mir einfallen, ein blaues Irrlicht auf dem Moor ergreifen zu wollen. Bummlerin, pflichtvergessene!«, fügte er nach nach einer kleinen Weile hinzu. »Einen ganzen Monat fern von mir gewesen! Und ich möchte schwören, dass sie mich ganz vergessen hat!«
Ich wusste, dass es eine Freude für mich sein würde, meinen Herrn wiederzutreffen, wenn sie auch durch die Furcht getrübt wurde, dass er bald aufhören würde, mein Herr zu sein, und das Bewusstsein, dass ich selbst ihm nichts sei. Aber Mr. Rochester besaß in so reichem Maße die Macht, glücklich zu machen – so glaubte ich wenigstens –, dass es schon ein köstliches Mahl war, von den Brosamen zu kosten, welche er fremden, verirrten Vögeln wie mir hinwarf. Seine letzten Worte waren Balsam: Sie schienen anzudeuten, dass es ihm nicht gleichgültig war, ob ich ihn vergaß oder nicht. Und er hatte Thornfield mein Zuhause genannt – wenn es doch mein Heim wäre!
Er verließ den Zaunübertritt nicht, und ich hatte nicht den Mut, ihn zu bitten, dass er mich vorüberlasse. Ich fragte daher, ob er nicht in London gewesen wäre.
»Ja. Vermutlich haben Sie das Zweite Gesicht, dass Sie dies erfahren haben?«
»Mrs. Fairfax teilte es mir in einem Brief mit.«
»Und hat sie Sie auch gründlich von dem Zweck meiner Reise unterrichtet?«
»O ja, Sir! Jedermann kannte diesen Zweck.«
»Sie müssen sich die Kutsche ansehen, Jane, und mir sagen, ob sie Mrs. Rochester gefallen wird, und ob Mrs. Rochester nicht aussehen wird wie die Königin Boadicea, wenn sie sich in die dunkelroten Polster zurücklehnt. Ich wünschte nur, Jane, dass ich äußerlich ein klein wenig besser zu ihr passen würde. Sagen Sie mir, da Sie doch eine Fee sind, können Sie mir nicht ein Zaubermittel oder einen Trank oder so etwas geben, das einen schönen Mann aus mir macht?«
»Dazu reicht keine Zauberkraft, Sir.« Und innerlich setzte ich hinzu: ›Ein liebendes Auge ist aller Zauber, dessen es hier bedarf; einem solchen sind Sie schön genug. Ihr ernster Blick hat ihm sogar eine Macht verliehen, die größer ist als alle Schönheit.‹
Mr. Rochester hatte meine unausgesprochenen Gedanken oft mit einem Scharfsinn gelesen, die mir völlig unbegreiflich war. Auch in diesem Fall nahm er von meiner schroffen mündlichen Entgegnung keine Notiz, aber er lächelte mich mit jenem seltsamen Lächeln an, das nur ihm allein eigen war und das er nur bei den seltensten Gelegenheiten hatte. Für gewöhnliche Anlässe schien er es für zu gut zu halten; es war ein wahrer Sonnenschein des Gefühls, der sich über mich ergoss.
»Gehen Sie, Jane«, sagte er, indem er mir Platz machte, um über den Zaunübertritt steigen zu können, »gehen Sie nach Hause und lassen Sie Ihre
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