Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
kein Körnchen Schmutz, keine Spur von Unordnung, die ich so sehr hasste und die mich in meinen Augen tief erniedrigte, haftete mehr an mir – schlich ich die steinerne Treppe hinunter, mich fortwährend am Geländer haltend. Ich gelangte in einen engen Korridor und fand gleich darauf meinen Weg in die Küche.
Diese war vom Duft frisch gebackenen Brotes erfüllt und von einem großen, hellen Feuer durchwärmt. Hannah war mit Backen beschäftigt. Es ist ja bekannt, dass es am schwersten ist, Vorurteile aus solchen Herzen auszurotten, deren Boden niemals durch Erziehung urbar und fruchtbar gemacht worden ist: Hier wachsen und wuchern Vorurteile fast wie das Unkraut zwischen Felsgestein. Hannah war in der Tat anfangs kalt und steif gewesen, seit kurzem aber hatte sie angefangen, ein wenig aufzutauen, und als sie mich nun sauber und anständig gekleidet eintreten sah, lächelte sie sogar.
»Was, Sie sind aufgestanden?«, rief sie aus. »Da geht es Ihnen also endlich besser? Wenn Sie wollen, dürfen Sie sich in meinen Stuhl am Herd setzen.«
Sie zeigte auf den Schaukelstuhl; ich nahm Platz. Sie wirtschaftete in der Küche umher und warf mir von Zeit zu Zeit einen prüfenden Seitenblick zu. Während sie einige Brote aus dem Backofen nahm, wandte sie sich zu mir und sagte derb:
»Haben Sie schon früher gebettelt, ehe Sie zu uns kamen?«
Einen Augenblick war ich empört, aber glücklicherweise fiel mir ein, dass ich mich nicht ärgern durfte, da ich in ihren Augen wirklich wie eine Bettlerin erscheinen musste. Ich antwortete also ruhig, aber nicht ohne einen gewissen Nachdruck:
»Sie irren sich, wenn Sie meinen, dass ich eine Bettlerinsei. Ich bin keine Bettlerin, nicht mehr als Sie oder Ihre jungen Ladys.«
Nach einer Pause sagte sie wieder: »Nun, das verstehe ich nicht. Sie haben doch kein Haus und kein Kupfer?«
»Dass ich kein Haus und kein Kupfer besitze – ich vermute, dass Sie damit Geld meinen –, das macht mich doch noch nicht zur Bettlerin, in Ihrem Sinne des Wortes.«
»Sind Sie denn gebildet, mit Büchern und dergleichen?«, fragte sie darauf.
»Ja.«
»Aber Sie sind doch nicht in einem Internat gewesen, oder?«
»Ich war acht Jahre hindurch in einem Internat.«
Sie riss die Augen weit auf: »Und dann können Sie sich nicht einmal selbst erhalten?«
»Ich habe mich selbst ernährt und hoffe, es sehr bald wieder zu können. – Was wollen Sie denn mit den Stachelbeeren machen?«, fragte ich, als sie einen Korb dieser Früchte herbeitrug.
»Kuchen davon backen.«
»Geben Sie sie mir, ich will sie auslesen.«
»Nein. Ich mag nicht, dass Sie etwas tun.«
»Aber ich muss mich doch mit irgendetwas beschäftigen! Geben Sie sie nur her!«
Endlich willigte sie ein und brachte mir sogar ein reines Handtuch, um es über mein Kleid zu legen, damit ich »es nicht beschmuddle«, wie sie sagte.
»Sie sind wohl nicht an Hausarbeit gewöhnt gewesen? Das sehe ich an Ihren Händen«, bemerkte sie. »Wahrscheinlich sind Sie eine Schneiderin.«
»Nein, Sie irren sich. Und nun machen Sie sich keine Gedanken über das, was ich einmal gewesen bin; zermartern Sie Ihren Kopf nicht länger über meine Angelegenheiten, sondern sagen Sie mir bitte lieber, wo ich mich eigentlich befinde, wie dieses Haus heißt.«
»Einige Leute nennen es Marsh End, andere nennen es Moor House.«
»Und der Herr, welcher hier wohnt, heißt Mr. St. John?«
»Nein, er wohnt nicht hier, er hält sich hier nur für einige Zeit auf. Zu Hause ist er in seinem eigenen Haus, und das ist der Pfarrhof von Morton.«
»Das Dorf einige Meilen von hier?«
»Ja.«
»Und was ist er?«
»Er ist Pastor.«
Mir fiel die Antwort der alten Haushälterin im Pfarrhof ein, als ich gebeten hatte, mit dem Pastor sprechen zu dürfen.
»War denn dies das Haus seines Vaters?«
»Ja. Der alte Mr. Rivers wohnte hier, und sein Vater und sein Großvater, und sein Urgroßvater vor ihm.«
»Der Name dieses Herrn ist also Mr. St. John Rivers?«
»Ja. St. John ist so etwas wie sein Taufname.«
»Und seine Schwestern heißen Diana und Mary Rivers?«
»Ja.«
»Ihr Vater ist tot?«
»Vor drei Wochen gestorben. Durch den Schlag.«
»Sie haben keine Mutter?«
»Die ist schon lange Jahre tot.«
»Und sind Sie schon lange in der Familie?«
»Ich bin schon dreißig Jahre hier. Hab ja die drei Kinder allein aufgezogen.«
»Das beweist, dass Sie eine treue und ehrliche Dienerin sein müssen. Dies will ich Ihnen gerne zugestehen, obgleich Sie mich eine Bettlerin
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