Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
werden sie zum Tee zurück sein.«
Sie kehrten innerhalb der von Hannah angegebenen Zeit zurück und traten durch die Küchentür ein. Als Mr. St. John mich sah, verbeugte er sich nur und ging vorüber; die beiden Damen aber verweilten, und Mary drückte in wenigen Worten freundlich und ruhig ihre Freude darüber aus, dass ich wohl genug sei, um herunterzukommen. Diana schüttelte den Kopf, als sie meine Hand ergriff:
»Sie hätten meine Erlaubnis zum Herunterkommen abwarten sollen«, sagte sie. »Sie sehen noch so fürchterlich blass aus – und so abgezehrt! Armes Kind, armes Mädchen!«
Diana hatte eine Stimme, welche für mein Ohr wie das Girren einer Taube klang. Sie besaß Augen, deren Blick man nur mit Entzücken begegnen konnte, und ihr Gesicht war reizend und anmutig. Marys Züge waren ebenso intelligent und ebenso hübsch; ihr Ausdruck aber war zurückhaltender und ihre Manieren, obgleich sanft, doch viel reservierter. Diana blickte und sprach mit einem gewissen Autoritätsbewusstsein, offensichtlich hatte sie einen starken Willen. Es lag in meiner Natur, einer Überlegenheit wie der ihren mit Freuden nachzugeben und mich einem kräftigen Willen zu beugen, wo mein Gewissen und meine Selbstachtung es erlaubten.
»Und was haben Sie hier in der Küche zu tun?«, fuhr sie fort. »Dies ist kein Platz für Sie. Mary und ich sitzen zuweilen in der Küche, weil wir zu Hause gern einmal tun, was uns beliebt – aber Sie sind ein Gast und müssen ins Wohnzimmer kommen.«
»Ich fühle mich hier aber sehr behaglich.«
»Das kann nicht sein – mit Hannah, die umherwirtschaftet und Sie mit Mehl bestäubt?«
»Außerdem erhitzt das Herdfeuer Sie auch zu sehr«, warf Mary ein.
»Gewiss«, fügte ihre Schwester hinzu. »Kommen Sie, Sie müssen gehorsam sein.« Und indem sie meine Hand noch immer hielt, ließ sie mich aufstehen und führte mich in das innere Zimmer.
»Nehmen Sie dort Platz …«, sagte sie, indem sie mich auf das Sofa niederdrückte, »… während wir unsere Mäntel ablegen und den Tee bereiten. Das ist noch eins von jenen Privilegien, die wir in unserem kleinen Ländchen ausüben: Wir bereiten unsere eigenen Mahlzeiten, wenn wir Lust dazu haben, oder wenn Hannah gerade Brot bäckt, Bier braut, wäscht oder bügelt.«
Sie schloss die Tür und ließ mich mit Mr. St. John allein, der mir mit einem Buch oder einer Zeitung in der Hand gegenübersaß. Prüfend ließ ich meine Blicke durch das Wohnzimmer schweifen, dann hefteten sie sich auf mein Gegenüber.
Das Wohnzimmer war ein ziemlich kleiner, außerordentlich einfach ausgestatteter Raum, aber es war gemütlich und die gründlichste Sauberkeit herrschte darin. Die altmodischen Stühle waren blank poliert, und selbst der Nussbaumtisch glänzte wie ein Spiegel. Einige seltsame alte Porträts von Männern und Frauen vergangener Tage zierten die farbig gestrichenen Wände, ein Glasschrank enthielt einige Bücher und ein altes, wertvolles Porzellanservice. Im ganzen Zimmer waren keine überflüssigen Luxusgegenstände und nicht ein einziges neumodisches Möbelstück – mit Ausnahmen von zwei Handarbeitskästen und einem Damenschreibtisch von Rosenholz. Alles, selbst der Teppich und die Vorhänge, sah viel benutzt und dennoch sehr geschont aus.
Es war nicht schwer, Mr. St. Johns Äußeres eingehend zuprüfen; er saß so still da, wie eines der dunklen Bilder an den Wänden. Sein Auge haftete fest auf den Zeilen, welche er las, und seine Lippen waren versiegelt. Wäre er eine Statue anstatt ein Mann gewesen, so hätte man ihn nicht leichter besichtigen können. Er war jung – ungefähr zwischen achtundzwanzig und dreißig, groß und schlank. Sein Gesicht musste jedes Auge fesseln; es war ein griechisches Antlitz mit ernsten Linien, einer geraden, klassischen Nase und dem Mund und dem Kinn eines Atheners. Es ist allerdings selten, dass ein englisches Gesicht der Antike so nahekommt, und es war nicht verwunderlich, dass er sich über die Unregelmäßigkeit meiner Züge entsetzt hatte, da die seinen so überaus harmonisch waren. Seine Augen waren groß und blau mit langen, dunklen Wimpern; Locken blonden Haares fielen sorglos hier und da auf seine hohe Stirn, die fast so farblos war wie Elfenbein.
Dies ist eine liebenswürdige Skizze, nicht wahr, mein Leser? Und doch machte der, den ich beschreibe, nicht den Eindruck einer sanften, nachgiebigen, feinfühligen oder milden Natur. Obgleich er so still dasaß, entdeckte ich doch Züge um seinen Mund, seine
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