Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Tee meinen Hut auf und lief durchs Tal, um sie zu sehen. Ist sie das?« Dabei deutete sie auf mich.
»Das ist sie«, sagte St. John.
»Glauben Sie, dass Morton Ihnen gefallen wird?«, fragte sie mich in einer zarten und naiven Weise, die, wenn auch etwas kindlich, so doch reizend war.
»Ich hoffe es zuversichtlich, denn ich habe gar manche Ursache dazu.«
»Haben Sie Ihre Schülerinnen so aufmerksam gefunden, wie Sie erwarteten?«
»Durchaus.«
»Und gefällt Ihnen Ihr Häuschen?«
»Sehr.«
»Habe ich es hübsch eingerichtet?«
»Sehr hübsch, wirklich.«
»Und traf ich eine gute Wahl, als ich Alice Wood zu Ihrer Bediensteten machte?«
»O ja, das taten Sie. Sie ist gelehrig und flink.« – Dies also, dachte ich, ist Miss Oliver, die Erbin; ebenso reich durch die Gaben des Schicksals bedacht wie durch jene der Natur. Welch glückliche Konstellation der Gestirne mag nur bei ihrer Geburt gewaltet haben? –
»Ich werde zuweilen heraufkommen und Ihnen in den Unterrichtsstunden behilflich sein«, fügte sie hinzu. »Eswird eine Abwechslung für mich sein, wenn ich Sie dann und wann besuchen darf, und ich liebe die Abwechslung. O Mr. Rivers, ich bin während meines Aufenthalts in S*** so lustig und ausgelassen gewesen. Gestern Abend oder vielmehr diese Nacht habe ich bis zwei Uhr getanzt. Seit den Revolten ist das ***te Regiment dort stationiert, und die Offiziere sind die liebenswürdigsten Leute der Welt. Sie stellen alle unsere jungen Scherenschleifer und Messerhändler in den Schatten.«
Mir schien es, als ob Mr. St. Johns Unterlippe sich vorschob und die Oberlippe sich für einen Augenblick kräuselte. Sein Mund sah auf jeden Fall sehr zusammengekniffen aus, und der untere Teil seines Gesichts war ungewöhnlich ernst und gesetzt, während das lachende Mädchen ihm diese Mitteilungen machte. Dann erhob er den Blick von den Tausendschönchen und heftete ihn auf sie. Es war ein durchdringender, unfreundlicher, bedeutsamer Blick. Sie antwortete mit einem erneuten Lachen, und Lachen kleidete ihre Jugend, ihre Rosen, ihr Grübchen und ihre leuchtenden Augen wohl.
Als er so stumm und ernst dastand, begann sie von Neuem, Carlo zu streicheln. »Der arme Carlo liebt mich«, sagte sie.
» Er
ist nicht streng und distanziert zu seinen Freunden, und wenn er sprechen könnte, würde er nicht schweigen.«
Als sie den Kopf des Tieres streichelte und sich mit angeborener Anmut vor seinem jungen, strengen Herrn beugte, sah ich, wie eine purpurne Glut das Gesicht jenes Herrn überzog. Ich sah, wie ein plötzliches Feuer die Härte seines Auges schmolz und dort in nicht zu unterdrückender Rührung flackerte. So gerötet und erregt, sah er als Mann fast ebenso schön aus wie sie als Frau. Seine Brust hob sich ein einziges Mal – als ob sein Herz des despotischen Zwanges müde wäre und sich gegen seinen Willen ausdehnte, um einen verzweifelten Befreiungsversuch zu machen. Aber erbändigte es, wie ein entschlossener Reiter ein sich bäumendes Pferd bändigen würde. Weder mit Wort noch Bewegung antwortete er auf ihr zartes Entgegenkommen.
»Papa klagt, dass Sie uns niemals mehr besuchen«, fuhr Miss Oliver fort, indem sie aufblickte. »Sie sind ein Fremder in Vale Hall geworden. Er ist heute Abend allein und fühlt sich nicht ganz wohl. Wollen Sie mit mir nach Hause gehen und ihn besuchen?«
»Es ist schon zu spät, um Mr. Oliver noch zu belästigen«, entgegnete St. John.
»Schon zu spät! Aber ich erkläre Ihnen, dass es durchaus nicht zu spät ist. Dies ist gerade die Stunde, in welcher Papa am meisten der Gesellschaft bedarf. Jetzt sind die Eisenwerke geschlossen, und er ruht aus von seinen Geschäften. Jetzt, Mr. Rivers, ich bitte Sie,
kommen
Sie! Weshalb sind Sie so zurückhaltend, so fürchterlich ernst?«
Dann füllte sie jedoch die Lücke, welche durch sein Schweigen entstand, durch ihre eigene Antwort aus. »Ach, ich vergaß!«, rief sie aus, indem sie ihren schönen Lockenkopf schüttelte, als sei sie über sich selbst entsetzt. »Ich bin so gedankenlos und zerstreut! Verzeihen Sie mir! Es war meinem Gedächtnis gänzlich entfallen, dass Sie Gründe genug haben, um für mein albernes Geschwätz nicht aufgelegt zu sein. Diana und Mary haben Sie verlassen, Moor House ist verschlossen und Sie sind einsam. Sie tun mir von Herzen leid! Kommen Sie mit und besuchen Sie Papa!«
»Nicht heute Abend, Miss Rosamond, nicht heute Abend.«
Mr. St. John sprach beinahe wie ein Automat. Nur er allein wusste, was es ihn
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