Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
verzogen. Sie war vorschnell, aber gutmütig; eitel – und das war nicht ihre Schuld, da doch jeder Blick in den Spiegel ihr ein solches Übermaß von Liebreiz zeigte –, aber nicht geziert; freigebig und vollständig frei von dem Übermut, der gewöhnlich großen Reichtum begleitet; ursprünglich, hinreichend intelligent, fröhlich, lebhaft und gedankenlos – kurzum, sie war selbst in den Augen einer so kühlen Beobachterin, wie ich es war, reizend. Aber sie war nicht außergewöhnlich interessant oder umwerfend beeindruckend, ihr Gemüt zum Beispiel war himmelweit verschieden von dem der beiden Schwestern St. Johns. Und doch liebte ich sie ungefähr so, wie ich meine Schülerin Adèle liebte, nur mit dem Unterschied, dass eine innigere Neigung für ein Kind entsteht, das wir behütet und belehrt haben, als wir sie für eine erwachsene Person hegen können, welche dieselben Vorzüge besitzt.
Sie selbst hatte eine liebenswerte Laune für mich gefasst. Sie sagte, ich sei Mr. Rivers ähnlich, allerdings, fügte siehinzu, nicht halb so hübsch. Denn wenn ich auch eine nette kleine Person wäre, so sei er aber doch ein Engel. Indessen sei ich gut, klug, ruhig und charakterfest wie er. Ich sei ein
lusus naturae
, behauptete sie, ein Wunder von einer Dorfschullehrerin. Sie sei überzeugt, dass meine Lebensgeschichte, wenn man sie denn kennen würde, den schönsten Romanstoff abgeben würde.
Eines Abends, als sie mit ihrer gewöhnlichen kindlichen Lebhaftigkeit und gedankenlosen, jedoch harmlosen Neugier den Schrank und die Schubladen des Tisches in meiner kleinen Küche durchstöberte, entdeckte sie zuerst zwei französische Bücher, einen Band von Schillers Werken, eine deutsche Grammatik und ein Wörterbuch; dann meine Zeichenutensilien und einige Skizzen, einen mit Bleistift gezeichneten Kopf eines hübschen, kleinen, engelsgleichen Mädchens – eine meiner Schülerinnen – und verschiedene Zeichnungen nach der Natur, welche ich im Tal von Morton und auf den umliegenden Moorgründen angefertigt hatte. Zuerst war sie stumm vor Erstaunen, dann elektrisiert vor Begeisterung.
Ob ich diese Bilder gemalt hätte? Ob ich denn Französisch und Deutsch könne? Welch ein Liebling, welch ein Wunder ich sei! Ich zeichnete ja viel besser als ihr Lehrer in der besten Schule von S***. Ob ich denn nicht auch eine Skizze von ihr machen wolle, um sie ihrem Papa zu zeigen?
»Mit Vergnügen«, entgegnete ich, und bei dem Gedanken, nach einem so vollkommenen und vor Schönheit strahlenden Modell malen zu dürfen, empfand ich etwas von dem Entzücken eines Künstlers. Sie hatte gerade ein dunkelbraunes Seidenkleid an, Arme und Nacken waren bloß, ihr einziger Schmuck waren ihre kastanienbraunen Locken, welche in wilder und natürlicher Anmut auf ihre Schultern herabfielen. Ich nahm einen Bogen feinen Kartons und zeichnete mit großer Sorgfalt die Umrisse. Ich freute mich darauf, sie in Farben zu malen, aber da es bereits spät geworden war, sagteich ihr, dass sie noch einmal kommen und mir zu dem Bild Modell sitzen müsse.
Ihrem Vater erstattete sie einen solchen Bericht von mir, dass Mr. Oliver selbst sie am nächsten Abend begleitete – ein großer, grauhaariger Mann in mittleren Jahren mit kräftigen Gesichtszügen, an dessen Seite die liebliche Tochter aussah wie eine prächtige Blume neben einem eisgrauen Turm. Er schien ein schweigsamer, vielleicht auch ein hochmütiger Mensch zu sein, aber gegen mich war er gütig und freundlich. Die Skizze zu Rosamonds Porträt gefiel ihm außerordentlich; er sagte, ich müsse ein fertiges Bild daraus machen. Er bestand auch darauf, dass ich am nächsten Tag nach Vale Hall kommen müsse, um den Abend dort zuzubringen.
Ich ging hin. Ich fand einen großen, schönen Wohnsitz, welcher hinreichend Zeugnis vom Reichtum seines Besitzers ablegte. Während der ganzen Zeit meines Aufenthalts war Rosamond voll Freude und Liebenswürdigkeit. Ihr Vater war freundlich, und als er nach dem Tee ein Gespräch mit mir anfing, gab er in starken Ausdrücken seine Zufriedenheit mit dem zu erkennen, was ich in Morton getan hatte. Nur fürchte er, wie er sagte, dass ich zu gut für die Stelle sei, nach allem was er gesehen und gehört habe, und dass ich diese wohl bald gegen eine bessere vertauschen würde.
»In der Tat«, rief Rosamond aus, »sie ist gescheit genug, um Gouvernante in einer vornehmen Familie sein zu können, Papa.«
Ich dachte bei mir, dass ich viel lieber bleiben würde, wo ich war, als in
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