Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
kostete, ihr diese Bitte abzuschlagen.
»Nun, wenn Sie so eigensinnig sind, so will ich Sie verlassen, denn ich darf nicht länger ausbleiben. Der Tau beginnt schon zu fallen. Gute Nacht!«
Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Er berührte sie leicht. »Gute Nacht!«, wiederholte er mit einer Stimme, dieso hohl und matt wie ein Echo klang. Sie wandte sich zum Gehen. Doch gleich darauf kam sie zurück.
»Geht es Ihnen auch gut?«, fragte sie. Sie mochte diese Frage wohl stellen, denn sein Gesicht war so bleich wie ihr Gewand.
»Recht gut«, beteuerte er, und mit einer Verbeugung entfernte er sich von der Pforte. Sie ging nach der einen Seite, er nach der anderen. Sie wandte sich zweimal um, ihm nachzublicken, als sie elfengleich über die Felder talabwärts trippelte; er blickte nicht ein einziges Mal zurück, während er mit großen, festen Schritten dem Pfarrhof zuging.
Dieser Anblick der Leiden und Opfer anderer lenkte mich vom Nachdenken über mich selbst ab. Diana Rivers hatte von ihrem Bruder gesagt, er wäre »unerbittlich wie der Tod«. Sie hatte nicht übertrieben.
Zweiunddreißigstes Kapitel
Ich widmete mich dem Unterricht an der Dorfschule so treu und fleißig, wie ich konnte. Anfangs war es wirklich eine schwere Arbeit. Es verging trotz all meiner Anstrengungen geraume Zeit, bevor ich die Art und die Sprechweise meiner Schülerinnen verstehen konnte. Vollständig unwissend, all ihre Fähigkeiten noch ungeweckt schlummernd, schienen sie mir hoffnungslos dumm und, auf den ersten Blick, alle gleich stumpfsinnig. Aber bald sah ich meinen Irrtum ein. Wie unter den Gebildeten, so gab es auch unter ihnen Unterschiede. Und als wir erst anfingen, einander kennenzulernen, entwickelten diese Unterschiede sich mit rapider Schnelligkeit. Als ihr Erstaunen über mich, meine Sprache, meine Forderungen und meine Manieren erst einmal gewichen war, sah ich zu meiner größten Verwunderung, wie einige dieser schwerfälligen, gaffenden Bauernkinder sich zu klugen, verständigen kleinen Mädchenentwickelten. Einige zeigten sich sogar verbindlich und liebenswürdig, und ich entdeckte unter ihnen mehr als ein Beispiel natürlicher, angeborener Höflichkeit und Selbstachtung sowie ausgezeichnete Anlagen, welche meine Bewunderung und mein herzliches Wohlwollen gewannen. Die Mädchen erledigten ihre Aufgaben schon bald mit Freude. Sie hielten sich sauber, lernten ihre Lektionen regelmäßig und eigneten sich ruhige und ordentliche Manieren an. In einigen Fällen war die Schnelligkeit ihrer Fortschritte sogar überraschend, und ich empfand einen ehrlichen, glücklichen Stolz darüber. Außerdem hegte ich für einige meiner besten Schülerinnen bald ein persönliches Wohlwollen, und diese liebten mich wieder. Unter den Mädchen befanden sich mehrere Bauerntöchter, die fast schon erwachsen waren. Sie konnten bereits lesen, schreiben und nähen; ich lehrte sie nun die Grundlagen der Grammatik, Geographie und Geschichte und zeigte ihnen feinere Arten von Handarbeit. Ich entdeckte hoch achtbare Charaktere – Charaktere, welche nach Belehrung dürsteten und der Bildung zugänglich waren, und mit ihnen brachte ich manchen freundlichen Abend in ihrer eigenen Häuslichkeit zu. Bei solchen Gelegenheiten überhäuften mich die Eltern – der Bauer und seine Frau – oft mit Aufmerksamkeiten. Es war mir dann eine große Freude, diese einfache Herzlichkeit anzunehmen und sie durch besondere Achtung und sorgsame Rücksichten auf ihre Gefühle zu vergelten – Rücksichten, an welche sie vielleicht nicht immer gewöhnt waren, welche sie erfreuten und welche ihnen nützten: Während es sie in ihren eigenen Augen erhob, spornte es sie auch an, sich der achtungsvollen Behandlung würdig zu erweisen, welche ich ihnen zuteil werden ließ.
Ich fühlte, wie ich anfing, der Liebling meiner Umgebung zu werden. Wenn ich aus dem Haus ging, hörte ich von allen Seiten freundliche Grüße und wurde überall mit herzlichem Lächeln empfangen. Inmitten allgemeiner Achtungzu leben, und wenn es auch nur die Achtung einfacher Arbeiter ist, gleicht dem Gefühl, im ruhigen, lieblichen Sonnenschein zu sitzen; reine, heitere Empfindungen sprießen und erblühen unter diesem belebenden Strahl. In diesem Abschnitt meines Lebens schwoll mein Herz viel öfter in Dankbarkeit an, als dass es gejammert und getrauert hätte. – Und doch, mein lieber Leser, wenn ich dir alles sagen soll, inmitten dieses ruhigen, dieses nützlichen Daseins, nachdem ich den Tag in
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