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Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Brontë
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ehrlichen Bestrebungen unter meinen Schülerinnen, den Abend mit Zeichnen oder Lesen still und zufrieden zugebracht hatte, pflegte ich in der Nacht gar seltsame Träume zu haben: farbige, bunte, aufregende, stürmische Träume – Träume, in denen ich in einer fremden Umgebung voller Abenteuer, zwischen furchtbaren Gefahren und romantischen Zwischenfällen immer und immer wieder Mr. Rochester traf, jedes Mal in dem Augenblick, wo irgendeine entscheidende Krise eintrat. Und dann erneuerte sich mit all seiner ersten Macht und seinem ersten Feuer das Gefühl, in seinem Arm zu liegen, seine Stimme zu hören, seinem Blick zu begegnen, seine Hand, seine Wange zu berühren, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden – und damit die Hoffnung, ein ganzes langes Leben an seiner Seite zuzubringen. Dann erwachte ich, erinnerte mich meiner Lage und wo ich war und erhob mich von meinem einfachen Lager, zitternd und bebend. Und die stille, dunkle Nacht sah die Zuckungen der Verzweiflung, hörte den Jammer der Leidenschaft. Um neun Uhr am nächsten Morgen öffnete ich aber pünktlich die Schule; ruhig, gefasst, vorbereitet auf die ernsten Pflichten des Tages.
    Rosamond Oliver hielt ihr Versprechen, mich zu besuchen. Ihren Besuch in der Schule machte sie gewöhnlich zur Zeit ihres täglichen Morgenrittes. Sie pflegte an der Tür des Schulhauses vorzureiten, hinter ihr ein livrierter Diener, ebenfalls zu Pferde. Man kann sich kaum einen lieblicheren Anblick denken als ihre Erscheinung in einem dunkelrotenReitkleid, das Amazonenhütchen von schwarzem Samt graziös auf die langen Locken gedrückt, die ihre Wangen umflossen und über ihre Schultern herabwallten. So trat sie in das einfache, ländliche Gebäude und schwebte zwischen den Reihen der halb geblendeten Dorfkinder auf und ab. Gewöhnlich kam sie um die Zeit, wo Mr. Rivers damit beschäftigt war, seinen täglichen Katechismusunterricht zu geben. Ich fürchte, dass das Auge der holden Besucherin das Herz des jungen Pfarrers schmerzlich durchbohrte: Eine Art von Instinkt schien ihm ihren Eintritt anzuzeigen, selbst wenn er ihn nicht mit eigenen Augen sah. Wenn er auch in die entgegengesetzte Richtung blickte – sobald sie in der Tür erschien, übergossen sich seine Wangen mit Glut, und seine Züge veränderten sich in unbeschreiblicher Weise, wie sehr er auch dagegen kämpfen mochte.
    Natürlich war sie sich ihrer Macht bewusst, und in der Tat, er verbarg nichts vor ihr, weil er es nicht konnte. Trotz seines christlichen Stoizismus zitterte seine Hand, und sein Auge flammte auf, wenn sie auf ihn zuging, mit ihm sprach und ihm fröhlich, ermunternd, ja sogar zärtlich ins Gesicht lächelte. Wenn er es auch nicht aussprach, so schien er mit seinem traurigen, entschlossenen Blick zu sagen: ›Ich liebe dich, und ich weiß, dass du mich lieb hast. Nicht weil ich am Erfolg zweifle, bleiben meine Lippen stumm. Ich glaube, dass du mein Herz annehmen würdest, wenn ich es dir anbieten würde. Aber dieses Herz liegt bereits auf einem heiligen Altar, die Opferflamme brennt schon. Bald wird es nichts mehr sein als die Asche des Opfers.‹
    Und dann konnte sie schmollen wie ein zürnendes Kind, und eine nachdenkliche Wolke trübte ihre strahlende Munterkeit. Hastig entzog sie dann ihre Hand der seinen und wandte sich heftig und zornig von ihm ab, von ihm, der dastand, wie ein Held und Märtyrer zugleich. Ohne Zweifel würde St. John die Welt darum gegeben haben, hätte er ihr folgen, sie zurückrufen, zurückhalten können, wenn sie ihnso verließ. Aber er wollte kein Körnchen seiner Anwartschaft auf den Himmel aufgeben; er wollte für das Elysium ihrer Liebe nicht seine Hoffnung auf das wahre, ewige Paradies hingeben. Überdies konnte er nicht alles das, was in seinem innersten Sein schlummerte – den Wanderer, den Schwärmer, den Dichter, den Priester – in die engen Grenzen einer einzigen Leidenschaft schmieden. Er konnte nicht, er wollte nicht dem wilden Schlachtfeld des Missionars für die Prachtsäle und den Frieden von Vale Hall entsagen. Dies alles erfuhr ich von ihm selbst, als ich mich seiner Zurückhaltung zum Trotz eines Tages bemühte, sein Vertrauen zu erlangen.
    Miss Oliver beehrte mich bereits mit häufigen Besuchen in meinem Cottage. Ich hatte ihren Charakter kennengelernt, der weder Heimlichkeiten noch Verstellung kannte. Sie war kokett, aber nicht herzlos; herrisch, aber nicht niedrig selbstsüchtig. Von Geburt an hatte man sie verwöhnt, aber nicht vollständig

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