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Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Brontë
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irgendeine große Familie des Landes zu gehen. Von Mr. Rivers und dessen ganzer Familie sprach Mr. Oliver mit größter Hochachtung. Er sagte, dass Rivers der älteste Name in der ganzen Gegend sei, dass die Vorfahren der Familie sehr reich gewesen wären und dass einst ganz Morton ihnen gehört habe. Mr. Oliver war der Ansicht, dass der einzige Repräsentant jenes Hauses noch jetzt eineVerbindung mit den besten Familien eingehen könne. Er meinte, es sei jammerschade, dass ein so strahlender und talentierter junger Mann den Plan gefasst habe, Missionar zu werden; das hieße doch wirklich, ein reiches, wertvolles Leben zu verschleudern. Es schien also, dass der Vater der Verbindung Rosamonds mit St. John durchaus kein Hindernis in den Weg legen würde – Mr. Oliver betrachtete das gute Herkommen, den alten Namen und den frommen Beruf des jungen Geistlichen als hinreichenden Ersatz für seinen Mangel an Vermögen.
     
    Es war der fünfte November und ein Feiertag. Nachdem meine kleine Dienerin mir geholfen hatte, das Haus zu reinigen, war sie fortgegangen, hoch beglückt durch das Geschenk eines Pennys für ihre Dienstleistungen. Alles um mich her war glänzend rein und spiegelblank – der Fußboden war gescheuert, der Herd gereinigt und die Stühle poliert. Auch mich selbst hatte ich zurechtgemacht, und nun lag der Nachmittag vor mir, mit dem ich anfangen konnte, was ich wollte.
    Die Übersetzung einiger Seiten Deutsch nahm eine Stunde in Anspruch. Dann nahm ich meine Palette und meine Pinsel und begann mit der weit beruhigenderen, weit leichteren Arbeit, Rosamond Olivers Miniaturbild zu vollenden. Der Kopf war bereits fertig; es fehlten nur noch die Andeutung des Hintergrundes und die Schattierung der Stoffe; ein Hauch Karmin musste noch auf die vollen, reifen Lippen gebracht werden und hier und da eine sanfte Welle auf das lockige Haar und eine tiefere Nuance auf die Wimpern unter den bläulichen Augenlidern. Ich war in die Ausführung dieser hübschen Details vertieft, als nach einem kurzen, hastigen Klopfen meine Tür geöffnet wurde und St. John Rivers eintrat.
    »Ich wollte einmal schauen, wie Sie Ihren Feiertag zubringen«, sagte er. »Nicht in Gedanken versunken, hoffeich? Nein? Das ist gut. Wenn Sie malen, werden Sie sich nicht einsam fühlen. Sie sehen, ich misstraue Ihnen noch immer, obgleich Sie sich bis jetzt wunderbar tapfer gezeigt haben. Ich habe Ihnen ein Buch zum Trost für die Abendstunden mitgebracht.« Damit legte er ein neu erschienenes Werk auf den Tisch. Es war ein Gedicht, eine dieser genialen Produktionen, wie sie dem Publikum in jenen Tagen, dem goldenen Zeitalter der modernen Literatur, oft vergönnt waren. Ach, die Leser unserer Zeit sind weniger begünstigt. Aber Mut, ich will nicht hadern oder klagen. Ich weiß, dass die Poesie noch nicht tot, das Genie noch nicht verloren ist. Auch hat der Mammon noch keine Macht über beide gewonnen; er kann sie weder fesseln noch töten. Beide werden eines Tages wieder ihre Existenz, Gegenwart, Freiheit und Stärke behaupten. Mächtige Engel, die ihr dort oben im Himmel Sicherheit gefunden habt! Ihr lächelt, wenn niedrige Seelen triumphieren und Schwache über eure Zerstörung weinen. Die Poesie zerstört? Das Genie verbannt? Mittelmäßigkeit? Nein! Lass den Neid dir nicht solche Gedanken eingeben! Poesie und Genie leben nicht nur, sondern sie herrschen und sie erlösen: Ohne ihren göttlichen Einfluss, der überallhin dringt, wäre man ja in der Hölle – in der Hölle der eigenen Armseligkeit.
    Während ich eifrig die strahlenden Seiten des Buches durchblätterte, es war Walter Scotts »Marmion«, beugte St. John sich nieder, um meine Zeichnung zu prüfen. Plötzlich schnellte seine schlanke Figur wieder empor, jedoch er sagte nichts. Ich sah zu ihm auf, aber er vermied meinen Blick. Ich kannte seine Gedanken gar wohl und konnte deutlich in seinem Herzen lesen. In diesem Augenblick waren meine Empfindungen klarer und ruhiger als die seinen, ich war ihm gegenüber also im Vorteil. Und plötzlich kam mir der Wunsch, ihm etwas Liebes zu erweisen, wenn ich es denn konnte.
    ›Er lädt sich zu viel auf, mit all seiner Festigkeit und Selbstbeherrschung‹, dachte ich. ›Er verschließt jede Empfindung,jeden Schmerz – verleiht keinem Gefühl Worte, bekennt nichts, teilt nichts mit. Ich bin überzeugt, es würde ihm guttun, wenn er ein wenig über diese süße Rosamond spräche, welche er nicht heiraten zu dürfen glaubt. Ich will ihn schon zum

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