Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Tages ja doch erfahren – also besser jetzt als später. Ihr Name ist also Jane Eyre?«
»Natürlich. Darüber waren wir ja schon im Reinen.«
»Sie wissen vielleicht nicht, dass ich Ihr Namensvetter bin? Dass ich St. John Eyre Rivers getauft bin?«
»Nein, wirklich? Ich erinnere mich jetzt wohl, in den Büchern, welche Sie mir zu verschiedenen Zeiten geborgt haben, auch den Buchstaben E gesehen zu haben, doch fragte ich niemals, für welchen Namen er stehe. Und weiter? Sollte etwa …«
Ich hielt inne. Ich hatte nicht einmal den Mut, den Gedanken zu denken, der sich vor mir auftat – viel weniger noch, ihm Worte zu verleihen. Einen Gedanken, der nach Ablauf der nächsten Minute aber als starke Wahrscheinlichkeit vor mir stand. Die Umstände knüpften aneinander an, passten zusammen, ordneten sich in Reih und Glied. Die Kette, welche bis jetzt in einem formlosen Haufen von Gliedern dagelegen hatte, wurde auseinandergezogen – jeder Ring war ganz, die Verbindung ununterbrochen. Instinktiv wusste ich, wie die Sache lag, noch bevor St. John ein Wort gesprochen hatte. Aber ich kann nicht verlangen, dass mein Leser dasselbe instinktive Ahnungsvermögen hat, deshalb werde ich seine Erklärung wiederholen:
»Der Name meiner Mutter war Eyre. Sie hatte zwei Brüder. Der eine war ein Geistlicher und heiratete Miss Reed von Gateshead; der andere, John Eyre Esq., Kaufmann, ist vor kurzem in Funchal auf Madeira gestorben. Da Mr. Briggs Mr. Eyres Sachwalter ist, schrieb er im letzten August an uns und teilte uns den Tod unseres Onkels mit; zugleich unterrichtete er uns davon, dass er sein Vermögen der Tochter seines Bruders hinterlassen habe. Wir waren übergangen infolge eines Streites zwischen ihm und meinem Vater, dem er niemals vergeben hatte. Vor einigen Wochen schrieb Mr. Briggs wieder, um uns zu sagen, dass die Erbin unauffindbar sei, und um anzufragen, ob wir denn nichts von ihr wüssten. Ein Name, vielleicht einmal in der Zerstreuung auf ein Stück Papier geschrieben, hat mich indie Lage versetzt, sie ausfindig zu machen. Das Übrige wissen Sie.« Und wiederum wollte er gehen, aber ich stellte mich vor die Tür.
»Lassen Sie mich sprechen«, sagte ich, »geben Sie mir nur einen Augenblick, um aufzuatmen und nachzudenken.« Ich hielt inne – er stand vor mir, den Hut in der Hand, und sah sehr ruhig und gefasst aus. Ich fuhr fort:
»Ihre Mutter war die Schwester meines Vaters?«
»Ja.«
»Folglich meine Tante?«
Er nickte.
»Mein Onkel John war Ihr Onkel John? Sie, Diana und Mary sind die Kinder seiner Schwester, ebenso wie ich das Kind seines Bruders bin?«
»Ohne Zweifel.«
»Sie sind also mein Vetter und Ihre Schwestern sind meine Cousinen: Die Hälfte unseres Blutes fließt aus derselben Quelle.«
»Vetter und Cousinen, ja.«
Ich beobachtete ihn. Mir war, als hätte ich einen Bruder gefunden, und noch dazu einen, auf den ich stolz sein, den ich lieben konnte. Und zwei Schwestern, welche so große, erhabene Eigenschaften besaßen, dass sie mir, als sie für mich nur fremde Menschen waren, die größte Liebe und Bewunderung eingeflößt hatten. Die beiden Mädchen, auf welche ich an jenem Abend, als ich auf dem feuchten Erdboden kniete und durch das niedrige, vergitterte Fenster der Küche von Moor House sah, mit einem so bitteren Gemisch von Interesse und Verzweiflung geblickt hatte – sie waren meine nächsten Verwandten! Und der junge, stattliche Mann, welcher mich fast sterbend auf seiner Schwelle gefunden hatte – er war durch Bande des Blutes an mich gebunden. Welche Entdeckung für eine unglückliche Verlassene!
Dies
war Reichtum in der Tat, Reichtum für mein Herz! Eine ganze Fundgrube reiner und natürlicher Liebe!Dies war eine Himmelswohltat, strahlend, klar und belebend; nicht wie ein schweres Geschenk von Gold, das in seiner Art willkommen genug sein mag, durch sein Gewicht aber stets zu Boden drückt. In einer plötzlichen Aufwallung von Freude klatschte ich in die Hände, mein Puls flog und in meinen Schläfen hämmerte es.
»Oh, ich bin so glücklich, so glücklich!«, rief ich aus.
St. John lächelte. »Sagte ich nicht, dass Sie die Hauptsache vernachlässigten, um Kleinigkeiten nachzuhängen?«, fragte er. »Sie wurden ernst, als ich Ihnen sagte, dass Ihnen ein Vermögen zugefallen sei, und jetzt sind Sie freudig erregt um einer Sache willen, die gar keine Bedeutung hat.«
»Was wollen Sie damit sagen? Für Sie mag es keine Bedeutung haben; Sie besitzen Schwestern und kümmern
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