Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Du kennst St. John und weißt, dass er dich selbst zu Unmöglichkeiten anspornen würde; in seiner Nähe würdest du nicht die Erlaubnis bekommen, während der heißen Stunden zu rasten, und unglücklicherweise zwingst du dich, wie ich bemerkt habe, alles zu vollbringen, was er von dir verlangt. Ich bin nur erstaunt, dass du den Mut gefunden hast, seine Hand zurückzuweisen. Du liebst ihn also auch nicht, Jane?«
»Nicht, wie ich einen Gatten lieben müsste.«
»Und doch ist er ein so schöner Mann.«
»Ja, und ich bin so farblos – wir würden gar nicht zueinander passen, Di.«
»Farblos? Du? Durchaus nicht! Du bist viel zu hübsch und viel zu jung, um in Kalkutta lebendig gegrillt zu werden.« Und wiederum beschwor sie mich eindringlich, jeden Gedanken daran aufzugeben, mit ihrem Bruder nach Indien zu gehen.
»Das muss ich wohl«, sagte ich, »denn als ich ihm vorhin mein Anerbieten wiederholte, ihm als Helferin zur Seite zu stehen, zeigte er sich empört über meinen Mangel an Anstand. Er schien der Ansicht zu sein, dass ich eine Unschicklichkeit begangen habe, indem ich ihm anbot, ihn zu begleiten, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Als hätte ich nicht von allem Anfang an gehofft, in ihm einen Bruder zu finden, und ihn auch stets als solchen betrachtet.«
»Wie kannst du aber sagen, dass er dich nicht liebt, Jane?«
»Du solltest ihn nur selbst über den Gegenstand redenhören. Er hat mir wieder und immer wieder erklärt, dass er nicht für sich selbst, sondern für sein Amt eine Gefährtin wünscht. Er sagte mir, dass ich zur Arbeit geboren sei – nicht zur Liebe. Und das ist ohne Zweifel wahr. Aber meiner Meinung nach bin ich auch nicht für die Ehe geboren, wenn ich nicht für die Liebe geschaffen bin. Wäre es denn nicht seltsam, Di, für das ganze Leben an einen Menschen gekettet zu sein, der in mir nichts weiter sieht als ein nützliches Werkzeug?«
»Unerträglich – unnatürlich – ganz außer Frage!«
»Und dann«, fuhr ich fort, »obgleich ich jetzt nur eine schwesterliche Neigung für ihn hege, so kann ich mir doch sehr gut die Möglichkeit vorstellen, dass ich, wenn ich gezwungen würde, seine Gattin zu werden, mit der Zeit eine unvermeidliche, seltsame, qualvolle Art von Liebe für ihn empfinden würde. Denn er ist so hochbegabt, und in seinem Blick, seiner Art, seiner Unterhaltung, seiner Sprechweise liegt oft ein Zug von heldenmütiger Größe. Und in einem solchem Fall würde mein Los doch unsäglich elend werden. Er würde nicht wollen, dass ich ihn liebte, und wenn ich ihm das Gefühl zeigte, würde er mir begreiflich machen, dass dies eine Überflüssigkeit sei, welche er nicht verlange und die mich nur schlecht kleide. Ich weiß, dass er so handeln würde.«
»Und doch ist St. John ein guter Mensch«, sagte Diana. »Er ist ein guter und ein großer Mann, aber ohne Erbarmen vergisst er die Empfindungen und Ansprüche kleinerer Menschen, indem er seine eigenen großen Pläne verfolgt. Es ist daher für die Unbedeutenden besser, ihm aus dem Weg zu gehen, damit er sie in seinem rastlosen Vorwärtsstreben nicht zu Boden tritt. – Doch da kommt er. Ich verlasse dich, Diana.« Und damit eilte ich die Treppe hinauf, als ich ihn in den Garten treten sah.
Beim Abendessen war ich jedoch gezwungen, ihm wieder zu begegnen. Während der Mahlzeit schien er so ruhigwie gewöhnlich. Ich hatte geglaubt, dass er kaum mit mir sprechen würde, und ich war fest überzeugt, dass er es aufgegeben hatte, seinen Heiratsplan noch weiterzuverfolgen, aber das Weitere sollte mich lehren, dass ich mich in beiden Punkten geirrt hatte. Er sprach zu mir ganz in der gewohnten Weise – oder doch wenigstens so, wie er es in der ganzen letzten Zeit getan hatte: Er war penibel höflich. Ohne Zweifel hatte er die Hilfe des Heiligen Geistes angefleht, um den Ärger zu bekämpfen, den ich in ihm erregt hatte, und er glaubte nun von sich, dass er mir ein weiteres Mal vergeben habe.
Zum Lesen vor dem Abendgebet hatte er das einundzwanzigste Kapitel der Offenbarung gewählt. Zu allen Zeiten war es wohltuend, ihm zuzuhören, wenn die Worte der Bibel von seinen Lippen kamen – niemals jedoch klang seine Stimme so süß und voll, niemals machte seine Art und Weise in ihrer edlen Einfachheit einen so tiefen Eindruck, als wenn er die Prophezeiungen verkündete. Heute Abend nahm diese Stimme einen noch feierlicheren Ton an, und seine Bewegungen und Gebärden bekamen eine noch tiefere Bedeutung, wie er so inmitten seines
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