Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Rochesters; und sie schrie flehend und jammernd, in wildem Schmerz.
»Ich komme!«, rief ich. »Warte auf mich! Oh, ich werde kommen!« Ich flog an die Tür und sah in den Korridor hinaus, er war dunkel. Ich lief in den Garten – er war leer.
»Wo bist du?«, rief ich aus.
Die Hügel hinter der Schlucht sandten die Antwort gedämpft zurück: »Wo bist du?« Ich lauschte. Der Wind seufzte leise in den Föhren. Nichts als einsames, leeres Moorland und mitternächtliche Stille.
»Fort mit dir, Aberglaube!«, befahl ich, als sich dies düstere Gespenst unheimlich neben dem schwarzen Eibenbaum an der Pforte erhob. »Dies ist nicht dein Trug, nicht deine Zauberei – dies ist das Werk der Natur. Sie war geweckt und tat zwar kein Wunder, wohl aber ihr Äußerstes.«
Ich riss mich von St. John los, der mir gefolgt war und mich zurückhalten wollte. Jetzt war
meine
Zeit gekommen, überlegen zu sein. Jetzt konnte ich
meine
Macht zeigen. Ich sagte ihm, er solle weder Fragen stellen noch Bemerkungen machen; ich bat ihn, mich zu verlassen, ich musste und wollte allein sein. Er gehorchte sofort. Wo genug Energie vorhanden ist, um zu befehlen, bleibt der Gehorsam niemals aus. Dann ging ich in mein Zimmer, schloss mich ein, fiel auf die Knie und betete auf meine Weise – anders als St. John, aber wirkungsvoll nach eigener Art. Mir war, alsdränge ich hinauf zum Geist der Allmacht, und meine Seele warf sich in Dankbarkeit zu seinen Füßen. Ich erhob mich vom Gebet, fasste einen Entschluss und legte mich dann zur Ruhe, ohne Furcht und voller Hoffnung – mit Sehnsucht den Anbruch des Tages erwartend.
Sechsunddreißigstes Kapitel
Und der Tag kam. Beim ersten Morgengrauen erhob ich mich. Ein oder zwei Stunden war ich damit beschäftigt, die Sachen, die Schubladen und Schränke in meinem Zimmer zu ordnen, um alles so zurückzulassen, wie es für die Dauer einer kurzen Abwesenheit sein musste. Inzwischen hörte ich St. John sein Zimmer verlassen. An meiner Tür blieb er stehen. Ich fürchtete, dass er anklopfen würde – aber nein, ein Streifen Papier wurde durch den schmalen Spalt unter der Tür hereingeschoben. Ich hob ihn auf. Er enthielt folgende Worte:
»Gestern Abend hast du mich zu plötzlich verlassen. Wenn du nur noch ein wenig länger geblieben wärst, so hätte deine Hand Christi Kreuz ergriffen und du hättest die Engelskrone errungen. Wenn ich in vierzehn Tagen zurückkehre, erwarte ich deinen klaren, endgültigen Entschluss. Inzwischen wache und bete, dass du nicht in Versuchung fällst: Der Geist, hoffe ich, ist willig, aber das Fleisch, das sehe ich, ist schwach. Jede Stunde werde ich für dich beten! Der Deine, St. John.«
›Mein Geist‹, entgegnete meine Seele, ›will das tun, was recht ist, und mein Fleisch, hoffe ich, ist stark genug, den Willen des Himmels zu vollbringen, wenn ich erst einmal jenen Willen deutlich erkannt habe. Auf jeden Fall wird es stark genug sein zu fragen, einen Ausweg aus diesem Nebel des Zweifels zu suchen und das Tageslicht der Gewissheit zu finden.‹
Es war der erste Juni, aber der Morgen war kalt und wolkig, und der Regen schlug hart an meine Fenster. Ich hörte, wie die Haustür geöffnet wurde und St. John hinausging. Als ich zum Fenster hinausblickte, sah ich, wie er durch den Garten ging. Er nahm den Weg über das neblige Moor in der Richtung von Whitcross – dort musste er den Postwagen treffen.
›In wenigen Stunden werde ich dir auf deiner Spur folgen, mein Vetter‹, dachte ich. ›Auch ich muss in Whitcross einen Postwagen nehmen. Auch ich habe in England jemanden, nach dem ich mich erkundigen und den ich aufsuchen muss, bevor ich für immer davongehe.‹
Bis zum Frühstück waren es noch zwei Stunden. Diese Zeit füllte ich damit aus, dass ich leise in meinem Zimmer auf und ab ging und über die Vision nachdachte, welche meinen Plänen ihre gegenwärtige Richtung gegeben hatte. Ich rief mir jene seltsame innere Empfindung ins Gedächtnis zurück und bemühte mich, mir ihre unbeschreibliche Fremdartigkeit in allen Einzelheiten zu vergegenwärtigen. Ich erinnerte mich der Stimme, die ich vernommen hatte; wiederum und ebenso vergeblich wie zuvor fragte ich mich, woher sie wohl gekommen sein könnte. Sie schien
in mir
gewesen zu sein – nicht in der äußeren Welt. Ich fragte mich, ob es bloß ein nervöser Eindruck gewesen war, eine Täuschung? Ich konnte weder begreifen noch glauben, es war mehr wie eine Inspiration gewesen. Die wundersame Erschütterung
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