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Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Brontë
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fühlte Verehrung für St. John, eine Verehrung, die so stark war, dass ihre Triebkraft mich plötzlich an jenenPunkt brachte, den ich so lange geflohen hatte. Die Versuchung überkam mich, den Kampf mit ihm aufzugeben, auf dem Strom seines Willens in die Bucht seines Daseins hineinzutreiben, um dort mein eigenes Sein aufzugeben. Ich war jetzt von ihm fast ebenso sehr in die Enge getrieben, wie einst von einem anderen. In beiden Fällen war ich eine Törin. Wenn ich damals nachgegeben hätte, so wäre es ein Vergehen gegen die Moral gewesen; nun nachzugeben wäre ein Vergehen gegen die gesunde Vernunft. – So denke ich in dieser heutigen Stunde, wenn ich durch das Medium der Zeit auf jene Krise zurückblicke. In jenem Augenblick damals war ich mir meiner Torheit indes nicht bewusst.
    Bewegungslos stand ich unter der Berührung meines Hohepriesters da. All meine Weigerungen waren vergessen, meine Furcht war besiegt, mein Ringen ermüdet. Das Unmögliche – meine Verbindung mit St. John – ward schnell zum Möglichen. Mit einem Schlage veränderte sich alles. Die Religion rief, die Engel winkten und Gott befahl – das Leben wickelte sich vor mir auf wie eine Schriftrolle, die Tore des Todes öffneten sich und zeigten mir die Ewigkeit, welche jenseits lag. Mir war, als könnte ich für die Sicherheit und Glückseligkeit im Jenseits in einer Sekunde alles opfern, was hienieden lag. Das dunkle Zimmer war voller Visionen.
    »Könntest du dich nicht jetzt schon entschließen?«, fragte der Missionar. Er stellte die Frage in sanftem Ton, und ebenso sanft zog er mich an sich. Oh, jene Milde! Wie viel mächtiger ist sie doch als Gewalt! St. Johns Zorn vermochte ich zu widerstehen, seiner Güte gegenüber wurde ich jedoch schwach wie ein Schilfrohr. Und dennoch wusste ich bestimmt, dass er mich, wenn ich jetzt auch nachgab, eines Tages für meinen früheren Widerstand würde büßen lassen. Durch eine Stunde des inbrünstigen, heiligen Gebets war seine ganze Natur noch nicht verändert; sie war nur erhabener geworden.
    »Ich könnte mich entschließen«, antwortete ich, »wenn ich nur gewiss wäre, wenn ich nur die feste Überzeugung hätte, es sei Gottes Wille, dass ich dich heiraten soll! Dann würde ich hier und jetzt schwören – möge später kommen, was da wolle!«
    »Mein Gebet ist erhört!«, rief St. John aus. Er presste seine Hand fester auf meinen Kopf, als nähme er Besitz von mir. Er legte seinen Arm um mich,
beinahe
als wenn er mich liebte. – Ich sage
›beinahe‹
, denn ich kannte den Unterschied: Ich hatte ja einst empfunden, was es heißt, geliebt zu sein; aber gleich ihm hatte ich die Liebe jetzt beiseitegelassen und nur an die Pflicht gedacht. Ich rang mit der verschwommenen Vision in mir, welche Nebel und Wolken umgaben. Aufrichtig, tief und innig sehnte ich mich danach, das zu tun, was recht war – und sonst nichts. »Zeige mir, oh zeige mir den rechten Pfad, gütiger Himmel!«, flehte ich. Ich war erregt, wie noch niemals zuvor. Und ob das, was dann folgte, die Wirkung meiner Aufregung war, mag der Leser selbst beurteilen.
    Das ganze Haus lag in tiefer Ruhe, denn ich glaube, dass außer St. John und mir sich alle bereits zu Bett begeben hatten. Die einzige Kerze war dem Verlöschen nahe, und das Mondlicht fiel hell ins Zimmer. Mein Herz schlug laut und heftig, ich hörte jeden seiner Schläge. Plötzlich stand es still unter einer unbeschreiblichen Empfindung, die es durchzitterte und mich an Kopf, Händen und Füßen lähmte. Die Empfindung war nicht wie ein elektrischer Schlag, aber ebenso scharf und seltsam beängstigend; sie wirkte auf meine Sinne, als sei deren äußerste Tätigkeit und Rastlosigkeit bis jetzt nur eine Art Erstarrung gewesen, aus welcher sie nun aufgerüttelt und geweckt wurden. Sie harrten voll Erwartung; Auge und Ohr waren gespannt, während jeder Nerv in mir bebte.
    »Was hast du gehört? Was siehst du?«, fragte St. John. Ich sah nichts. Aber ich hörte irgendwo eine Stimme, die rief:
    »Jane! Jane! Jane!« – sonst nichts.
    »O Gott, was ist das?«, stieß ich hervor.
    Ich könnte ebenso gut ausgerufen haben »Wo ist das?«, denn es schien nicht im Zimmer zu sein, nicht im Haus und nicht im Garten. Es kam nicht aus der Luft, nicht aus dem Erdboden und nicht von oben. Ich hatte etwas vernommen – wie oder woher, war unmöglich zu sagen. Aber es war die Stimme eines menschlichen Wesens – eine bekannte, geliebte, nie vergessene Stimme: die Stimme Edward Fairfax

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