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Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Brontë
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luftiger Schleier ist über sie gebreitet, er hebt ihn auf, beugt sich tiefer hinab; seine Augen genießen den Anblick der Schönheit: warm, blühend und lieblich in ihrer Ruhe. Wie flüchtig war sein erster Blick – aber wie sehr erstarrt er jetzt! Wie er zusammenschrickt! Wie er jetzt plötzlich stürmisch die ganze Gestalt, die er noch vor einem kurzen Augenblick nicht mit einem einzigen Finger zu berühren wagte, mit beiden Armen umschlingt! Wie er laut ihren Namen ruft, seine Last wieder sinken lässt und sie wild anstarrt! So packt und schreit und starrt er, weil er nicht länger fürchten kann, die Geliebte durch einen Schrei, den er ausstößt, durch eine Bewegung, die er macht, zu wecken: Er glaubte sie ruhig und friedlich schlafend – aber sie ist kalt und tot!
    Mit zitternder Freude hatte ich den Anblick eines stattlichen Herrenhauses erwartet: Ich sah nur von Rauch geschwärzte Ruinen.
    Es war nicht nötig, mich hinter einem Torpfeiler zusammenzukauern, scheu nach den Fenstern der Schlafzimmer emporzublicken, voller Bangen, dass sich hinter ihnen etwas regen könnte. Es war nicht nötig, auf das Öffnen undSchließen von Türen zu lauschen oder mir einzubilden, dass ich menschliche Schritte auf der Terrasse oder den Kieswegen vernähme. Der Garten und der Park waren niedergetreten und verwüstet; das Portal gähnte mir in fürchterlicher Leere entgegen. Die Vorderseite des Hauses war so, wie ich sie einst im Traum gesehen hatte: nur eine hohle Mauer, hoch und zerbrechlich, hier und da durch leere Fensterhöhlen unterbrochen. Kein Dach, keine Zinnen, keine Schornsteine – alles war in Trümmer gefallen. Und überall herrschte die Ruhe des Todes, die Stille einer einsamen Wildnis.
    Kein Wunder, dass auf Briefe, welche an Personen hierher gerichtet waren, niemals eine Antwort gekommen war; ebenso gut hätte man Episteln nach dem Grabgewölbe einer Kirche senden können. Die rauchige Schwärze sagte mir, welchem Schicksal das Herrenhaus zum Opfer gefallen war – durch Feuersbrunst war es vernichtet. Wie aber war diese entstanden? Welche Geschichte knüpfte sich an dieses Unglück? Welcher Verlust außer Mörtel, Marmor und Holz war noch entstanden? Waren auch Menschenleben zerstört worden? Und wenn – wessen Leben war zu beklagen? Furchtbare Frage! Hier war niemand, der mir hätte Antwort geben können, kein Laut, kein stummes Zeichen.
    Als ich zwischen den geborstenen Mauern und dem zerstörten Inneren des Hauses umherwanderte, wurde mir klar, dass das unglückselige Ereignis schon etwas zurückliegen musste. Es schien, dass durch den hohlen Torbogen bereits der Schnee eines Winters geweht und eisiger Regen durch die leeren Fensterhöhlen gedrungen war. Zwischen den Trümmerhaufen des zerstörten Hausrats schoss schon die Vegetation eines Frühlings empor; hier und dort wucherten Gras und Unkraut gar üppig zwischen den Steinen und herabgestürzten Balken. Aber ach, wo war wohl inzwischen der unglückliche Besitzer dieser Ruine? In welchem Land, unter welchen Verhältnissen? Unwillkürlich wandertenmeine Blicke zu dem altersgrauen Kirchturm dicht hinter dem großen Einfahrtstor, und ich fragte mich: ›Liegt er neben Damer de Rochester und teilt mit ihm die Ruhe seines engen Marmorhauses?‹
    Irgendwo musste ich Antworten auf diese Fragen erhalten, und dieser Ort konnte nur das Wirtshaus sein. Ich begab mich also dorthin zurück. Der Wirt selbst brachte mir das bestellte Frühstück in die Gaststube. Ich bat ihn, die Tür zu schließen und Platz zu nehmen. Nachdem er dies getan hatte, wusste ich aber kaum, wie ich beginnen sollte, ein solches Entsetzen empfand ich vor den möglichen Antworten. Und doch hatte der Anblick des Grauens, welches ich soeben verlassen hatte, mich schon auf eine jammervolle Geschichte vorbereitet. Der Wirt war ein anständig aussehender Mann in mittleren Jahren.
    »Sie kennen Thornfield Hall natürlich?«, fragte ich unter großer Anstrengung.
    »Ja, Madam, ich habe dort einst gewohnt.«
    »Tatsächlich?« – ›Aber nicht zu meiner Zeit‹, dachte ich, ›denn mir bist du ein Fremder.‹
    »Ich war der Kellermeister des verstorbenen Mr. Rochester.«
    Des Verstorbenen! Mit voller Wucht fiel nun anscheinend der Schlag auf mich, dem ich so lange ausgewichen war.
    »Des Verstorbenen?«, stieß ich mühsam hervor. »Ist er denn tot?«
    »Ich meine den Vater des jetzigen Mr. Edward«, erklärte er.
    Ich atmete auf, und mein Blut begann wieder zu zirkulieren. Diese Worte gaben mir

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