Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
außerdem noch dort? Seine wahnsinnige Gattin! Und du hast nichts mit ihm zu schaffen; du darfst nicht mit ihm sprechen, dich nicht in seine Nähe wagen. All deine Mühen und Anstrengungen sind umsonst gewesen. Es wäre wohl besser, wenn du nicht weitergingest‹, – so sprach die warnende Stimme. ›Bitte die Leute in der Schenke um Auskunft; sie können dir alles sagen, was du zu wissen brauchst, sie können all deine Zweifel mit einem Wort zerstreuen. Geh hin zu jenem Mann und frag ihn, ob Mr. Rochester daheim ist!‹
Der Rat war vernünftig, und doch konnte ich es nicht über mich bringen, danach zu handeln. Ich fürchtete eine Antwort, die mich in Verzweiflung treiben würde. Den Zweifel verlängern hieß die Hoffnung verlängern. Ich musste Thornfield Hall noch einmal unter seinem strahlenden Stern wiedersehen. Dort vor mir lag der Fußpfad. Dies waren dieselben Felder, durch welche ich am Morgen meiner Flucht von Thornfield gelaufen war, blind, taub und wahnsinnig, mit einer rachsüchtigen Wut im Herzen, die mich peitschte und verfolgte. Ehe ich noch recht wusste, welche Richtung ich am besten einschlüge, war ich schon mitten zwischen den Feldern. Wie schnell ich ging, wie ich zuweilen sogar lief! Wie ich voraus blickte, um die ersten Wipfel des wohlbekannten Parks zu erspähen! Mit welchem Gefühl ich einzelne Bäume begrüßte, die ich kannte, und lieb gewordene Aussichten auf Wiesen und Hügel!
Endlich erhoben sich die Bäume des Parks vor mir. Düster lag der Krähenhorst da, ein lautes Krächzen unterbrach die Stille des Morgens. Ein seltsames Entzücken überkam mich, und ich eilte vorwärts. Noch ein Feld durchkreuzt, einer gewundenen Heckengasse gefolgt – und da lagen die Mauern des Hofes und die Wirtschaftsgebäude vor mir.Das Haus selbst war noch hinter dem Krähenhorst verborgen.
›Zuerst will ich es von vorne wiedersehen‹, beschloss ich, ›wo die kühnen Zinnen einen so erhabenen Eindruck auf den Betrachter machen und wo ich das Fenster meines Herrn sehen kann. Vielleicht steht er an demselben – er pflegt früh aufzustehen. Vielleicht ergeht er sich jetzt auch im Obstgarten, oder auf der Terrasse vor dem Haus. Wenn ich ihn nur erblicken könnte! Nur für einen Augenblick! Wahrlich, wenn es so wäre – könnte ich so verrückt sein, zu ihm zu laufen? Ich kann es nicht sagen – ich bin meiner nicht sicher. Und wenn ich es täte, was weiter? Gott segne ihn, was dann? Wem geschähe ein Unrecht damit, wenn ich noch einmal für einen kurzen Augenblick die Lebenswonne kostete, die sein Blick in meine Adern gießt? – Aber ich phantasiere: Vielleicht beobachtet er in diesem Moment den Sonnenaufgang über den Pyrenäen oder das gezeitenlose Meer des Südens.‹
Ich war an der niedrigen Mauer des Obstgartens entlanggegangen und um eine Ecke gebogen. Hier befand sich eine Pforte zur Wiese, eingerahmt von zwei steinernen Pfeilern, welche von großen Steinkugeln gekrönt waren. Hinter einem dieser Pfeiler versteckt, würde ich ruhig die ganze Front des Herrenhauses überblicken können. Mit großer Vorsicht streckte ich meinen Kopf vor, weil ich mich vergewissern wollte, ob die Vorhänge der Schlafzimmerfenster bereits zur Seite gezogen wären. Von diesem geschützten Standpunkt aus würde ich sowohl die lange Vorderseite als auch die Fensterreihen und die Zinnen des Hauses beherrschen …
Vielleicht beobachteten mich die Krähen, welche ruhig durch die blauen Lüfte über mir segelten. Ich hätte gerne gewusst, was sie dachten: Sie werden mich zunächst für sehr besorgt und scheu, dann nach und nach aber für sehr kühn und unbekümmert gehalten haben. Ein flüchtiger Blick,dann ein langes Starren, nun ein Verlassen meines Winkels und ein Gang hinaus auf die Wiese. Darauf ein plötzliches Innehalten gerade vor der Front des Hauses, und ein kühner, langer Blick in jener Richtung. ›Welch affektierte Scheu am Anfang‹, mögen die alten Raben sich gefragt haben, ›und welch dumme Dreistigkeit jetzt?‹
Ich will es dir an einem Beispiel erklären, lieber Leser: Ein Liebender findet seine Geliebte auf einer bemoosten Bank eingeschlafen; er wünscht einen Blick auf ihr süßes Gesicht zu tun, ohne sie zu wecken. Leise schleicht er über das Gras, besorgt, ein Geräusch zu machen. Er hält inne, überzeugt, dass sie sich geregt hat. Nicht um alles in der Welt möchte er von ihr gesehen werden: Er zieht sich zurück. Alles ist still, er nähert sich ihr wiederum, er beugt sich über sie. Ein
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