Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Er kann ja gar nicht von England fort, er sitzt hier fest.«
Welch eine Qual! Und dieser Mann schien entschlossen, sie nach Möglichkeit zu verlängern.
»Er ist stockblind«, sagte er endlich. »Ja, ja, er ist stockblind, der arme Mr. Edward.«
Ich hatte Schlimmeres befürchtet. Ich hatte gefürchtet, er wäre wahnsinnig geworden. Nun nahm ich all meine Kraft zusammen und fragte, wie dies Unglück geschehen sei.
»Sein eigener Mut war schuld daran, und, wenn man so will, seine Gutherzigkeit: Er wollte das Haus nicht eher verlassen,als bis jeder andere vor ihm hinausgeschafft war. Als er dann endlich die große Treppe hinunterkam, nachdem Mrs. Rochester sich von den Zinnen hinabgestürzt hatte, da gab es einen großen Krach, und alles brach zusammen. Er wurde zwar lebend unter den Ruinen hervorgezogen, aber schwer verletzt. Ein Balken war so gefallen, dass er ihn teilweise geschützt hatte, aber ein Auge war ihm ausgeschlagen und eine Hand so vollständig zerschmettert, dass Mr. Carter, der Wundarzt, sie sofort amputieren musste. Das andere Auge war sehr entzündet, und er verlor auch auf diesem die Sehkraft. Jetzt ist er ganz hilflos – gänzlich blind und ein Krüppel.«
»Wo ist er? Wo wohnt er jetzt?«
»In Ferndean, einem seiner Landgüter, etwa dreißig Meilen von hier. Ein ziemlich verlassener Ort.«
»Und wer ist bei ihm?«
»Der alte John und sein Weib. Er wollte sonst niemanden um sich dulden. Man sagt, er wäre ganz gebrochen.«
»Haben Sie irgendeine Kutsche?«
»Wir haben eine Chaise, Madam, eine sehr schöne Chaise.«
»Lassen Sie augenblicklich anspannen! Und wenn Ihr Postknecht mich heute noch vor dem Dunkelwerden nach Ferndean bringen kann, so werde ich sowohl Ihnen wie ihm den doppelten Fahrpreis zahlen.«
Siebenunddreißigstes Kapitel
Das Herrenhaus von Ferndean war ein Gebäude von beträchtlichem Alter und mittlerer Größe, es entbehrte jeder architektonischen Schönheit und lag tief im Wald versteckt. Früher hatte ich oft davon reden gehört; Mr. Rochester hatte häufiger von Ferndean gesprochen und sich auch wiederholt dorthin begeben. Sein Vater hatte die Besitzung um ihrer ausgebreiteten Jagdgründe willen gekauft. Er hättedas Haus gern vermietet, konnte aber wegen der ungesunden und unbequemen Lage keinen Mieter finden. Also blieb Ferndean unmöbliert und unbewohnt – mit Ausnahme von zwei oder drei Zimmern, welche zur Aufnahme des Gutsherrn bereitstanden, wenn er während der Jagdsaison dorthin kam.
Ich erreichte das Haus am Abend eines trüben, von kaltem Wind und ununterbrochenem Regen gezeichneten Tages. Die letzte Meile hatte ich zu Fuß zurückgelegt, nachdem ich Postkutsche und Postillion mit dem Doppelten des versprochenen Preises entlassen hatte.
Selbst wenn man schon nahe vor dem Herrenhaus stand, konnte man es doch nicht sehen, so dicht wuchsen die Bäume des düsteren Waldes ringsum. Ein eisernes Tor zwischen zwei Granitpfeilern zeigte mir, wo ich eintreten musste, und als ich es durchschritten hatte, befand ich mich sofort wieder unter dem dicken Laubdach langer Baumreihen. Zwischen alten, bemoosten Baumstämmen und dichtem Unterholz zog sich ein grasbewachsener Pfad hin. Diesem folgte ich in der Erwartung, bald an eine menschliche Wohnung zu gelangen, jedoch er schlängelte sich weiter und weiter und nirgends war eine Spur von einem Haus oder einem Park.
Ich dachte, ich hätte die falsche Richtung eingeschlagen und den Weg verfehlt. Die Dunkelheit des Abends und des Waldes wurde immer undurchdringlicher. Ich blickte umher, um einen anderen Weg zu suchen: Es gab keinen. Nichts als verwachsenes Unterholz, kerzengerade Baumstämme, Sommerlaub – nirgends eine Lichtung.
Ich ging weiter. Endlich wurde der Pfad breiter, und die Bäume standen weniger dicht. Ich sah ein Geländer und dann ein Haus, welches in der zunehmenden Finsternis kaum von den Bäumen zu unterscheiden war, so feucht und moosbedeckt waren seine morschen Mauern. Ich trat durch ein Tor, das nur durch die Klinke geschlossen war, undstand inmitten eines umfriedeten Raumes, welcher sich im Halbkreis zwischen den Bäumen des Waldes ausdehnte. Es waren weder Blumen noch Gartenbeete dort, nur ein breiter Kiesweg, welcher sich um einen Rasenplatz zog – umstanden von dem ernsten, düsteren Wald. Das Haus hatte an seiner Vorderseite zwei Giebel; die Fenster waren schmal und vergittert; auch die Haustür war eng, eine Steinstufe führte zu ihr hinauf. Das Ganze war, wie der Wirt des »Rochester
Weitere Kostenlose Bücher