Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
sogar zu. Welch ein Lächeln! Noch heute erinnere ich mich daran, und ich weiß, dass es der Abglanz eines großen Geistes und wahren Mutes war. Das Lächeln verklärte ihre scharfen Züge, ihr abgemagertes Gesicht, ihre eingesunkenen, grauen Augen wie ein himmlischer Widerschein. Und doch trug Helen Burns in diesem Augenblick eine Armbinde, die sie als »schlampig« brandmarkte: Vor kaum einer Stunde hatte ich erst vernommen, wie Miss Scatcherd sie für den morgigen Tag dazu verurteilt hatte, ein Mittagsmahl von Wasser und Brot zu halten, weil sie eine Übung beim Abschreiben mit Tinte befleckt hatte. – O unvollkommene Natur des Menschen! Flecken gibt es auf der Oberfläche selbst der strahlendsten Planeten. Augen wie Miss Scatcherds sind nur imstande, diese winzigen Mängel und Fehler zu entdecken – für den vollen Glanz des Gestirns jedoch sind sie blind!
Achtes Kapitel
Noch ehe die halbe Stunde vorüber war, schlug es fünf Uhr. Die Klassen wurden entlassen, und alle begaben sich zum Tee ins Refektorium. Jetzt wagte ich, herabzusteigen. Es herrschte tiefe Dunkelheit. Ich ging in eine Ecke und setzte mich auf den Fußboden. Der Zauber, der mich bis dahin aufrechterhalten hatte, begann zu schwinden, ein Umschwung trat ein, und so überwältigend war der Schmerz, der sich meiner bemächtigte, dass ich auf das Gesicht zu Boden fiel. Jetzt weinte ich. Helen Burns war nicht mehr da, nichts, niemand hielt mich aufrecht. Mir selbst überlassen gab ich mich dem Jammer hin, und meine Tränen netzten den Fußboden. Ich hatte die feste Absicht gehabt, in Lowood gut und brav zu werden, viel zu lernen, mir Freunde zu erwerben, Achtung und Liebe zu erringen. Schon hatte ich sichtbare Fortschritte gemacht, noch an diesem Morgen war ich die Erste in meiner Klasse geworden, Miss Miller hatte mich warm gelobt, Miss Temple hatte mir mit Beifall zugelächelt. Sie hatte mir sogar versprochen, mir Zeichenstunden zu geben und mich Französisch zu lehren, wenn ich noch weitere zwei Monate solche Fortschritte machte. Meine Mitschülerinnen waren mir freundlich gesinnt, meine Altersgenossinnen behandelten mich als ihresgleichen, niemand quälte, niemand belästigte mich. Und jetzt lag ich hier, zertreten, zermalmt! Würde ich mich jemals wieder erheben können?
›Niemals‹, dachte ich, und glühend, brennend wünschte ich mir, tot zu sein. Als ich unter Schluchzen diesen Wunsch hervorstammelte, näherte sich jemand. Ich fuhr empor und erkannte Helen Burns, die im Licht des erlöschenden Feuers durch das große, leere Zimmer daherkam, sie brachte mir Kaffee und Brot.
»Komm, iss ein wenig«, sagte sie. Aber ich schob beides zurück, mir war, als hätte in meinem gegenwärtigen Zustandein Bissen, ein Tropfen mich ersticken müssen. Helen sah mich wohl erstaunt an, aber wie sehr ich mich auch bemühte, ich konnte meiner Erregung noch nicht Herr werden. Ich weinte immer noch vor mich hin. Sie setzte sich zu mir auf den Fußboden, schlang die Arme um ihre Knie und legte ihren Kopf darauf. In dieser Stellung verharrte sie regungslos wie ein Indianer. Ich sprach als Erste:
»Helen, weshalb bleibst du bei einem Mädchen, das alle für eine Lügnerin halten?«
»Alle, Jane? Nun, es sind doch nur achtzig Menschen, die gehört haben, wie man dich so nannte. Die Welt trägt Hunderte von Millionen Menschen.«
»Aber was habe ich mit diesen Millionen zu tun? Die achtzig, welche ich kenne, verachten mich.«
»Jane, du irrst. Wahrscheinlich ist nicht eine in der ganzen Schule, die dich verachtet oder dich hasst. Viele – da bin ich ganz sicher – bedauern dich von ganzem Herzen.«
»Wie können sie mich denn nach dem, was Mr. Brocklehurst gesagt hat, noch bedauern?«
»Mr. Brocklehurst ist kein Gott, er ist nicht einmal ein großer und geachteter Mensch. Man liebt ihn hier nicht, er hat auch niemals irgendetwas getan, um sich beliebt zu machen. Wenn er dich wie seinen besonderen Liebling behandelt hätte, so würdest du rund umher nur Feinde gefunden haben, offene oder heimliche. Wie die Dinge aber jetzt liegen, würden die meisten Mädchen dir gerne ihre Sympathie zeigen, wenn sie nur den Mut dazu hätten. Es ist möglich, dass Lehrerinnen und Schülerinnen dich während der nächsten zwei, drei Tage mit kalten Blicken betrachten, aber glaub mir, sie tragen freundliche Gefühle für dich im Herzen. Und wenn du fortfährst, gut und fleißig zu sein, so werden diese Gefühle binnen kurzem umso offener zutage treten, weil sie eine
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