Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
von Gefährdungen zu erlangen.
Ich ging ans Fenster, öffnete es und blickte hinaus. Da lagen die beiden Flügel des Gebäudes, da war der Garten, dort die Grenze von Lowood, weit hinten der bergige Horizont.Mein Auge schweifte über alle anderen Gegenstände fort, um an den entferntesten haften zu bleiben: an den Gipfeln! Diese zu übersteigen sehnte ich mich; alles, was innerhalb ihrer felsigen Grenzen an Heide lag, schien mir Gefängnisboden, Exil zu sein. Ich verfolgte die weiße Landstraße mit den Augen, welche sich am Fuße eines Berges dahinzog und in einer Schlucht zwischen zwei Höhen verschwand. Ach, wie gern wäre ich ihr noch weiter gefolgt! Ich erinnerte mich der Zeit, da ich in einer Postkutsche auf ebendieser Straße entlangfuhr, ich erinnerte mich, wie ich in der Dämmerung jenen Hügel herunterkam. Ein Menschenalter schien vergangen seit jenem Tage, der mich zuerst nach Lowood geführt – und nicht für eine Stunde hatte ich es seitdem verlassen. Alle meine Ferien waren in der Schule dahingegangen; Mrs. Reed hatte mich niemals wieder nach Gateshead kommen lassen und ebenso wenig hatte sie oder irgendein Mitglied ihrer Familie mich besucht. Weder durch Briefe noch durch mündliche Botschaft hatte ich einen Verkehr mit der Außenwelt aufrechterhalten; Schulregeln, Schulpflichten, Schulgebräuche, Schulgedanken, Stimmen, Gesichter, Phrasen, Kostüme, Sympathien und Antipathien – das war alles, was ich vom Dasein kannte. Und jetzt empfand ich, dass dies nicht genug sei. An einem einzigen Nachmittag wurde ich der Routine von acht Jahren überdrüssig. Ich ersehnte die Freiheit, ich lechzte nach Freiheit, um die Freiheit betete ich, doch mein Gebet verlor sich im Wind, der sich leise erhob. So gab ich die Freiheit auf und versuchte einen demütigeren Wunsch: Ich bat um Veränderung, um irgendeine neue Verlockung. Aber auch diese Bitte schien sich im leeren Raum zu verlieren. »Dann«, weinte ich verzweifelt, »dann sei mir wenigstens eine neue Aufgabe gewährt!«
In diesem Moment rief mich die Glocke nach unten, welche die Stunde des Abendessens verkündete.
Bis zur Zeit des Schlafengehens konnte ich meinen unterbrochenenGedankengang nicht mehr aufnehmen; und selbst dann hielt mich noch eine Lehrerin, welche das Zimmer mit mir teilte, durch kleinliches, belangloses Geschwätz von dem Gegenstand fern, zu dem ich mich sehnte, mit meinen Gedanken zurückkehren zu können. Wie wünschte ich, dass der Schlaf sie endlich zum Schweigen gebracht hätte! Mir war, als würde mir dann schon irgendein Einfall zu Hilfe kommen, wenn es mir nur möglich wäre, zu jenen Gedanken zurückzukehren, die meine Seele beschäftigten, als ich am Fenster stand.
Endlich schnarchte Miss Gryce. Sie war eine schwerfällige Waliserin, und bis jetzt hatte ich ihre üblichen Schlafgeräusche immer nur als Belästigung betrachtet; heute Abend aber begrüßte ich die ersten tiefen Töne mit innerster Befriedigung: Ich brauchte keine Unterbrechungen mehr zu fürchten, und meine halb aufgelösten Gedanken belebten sich von Neuem.
›Eine neue Stelle!
Das
könnte es sein‹, sagte ich zu mir selbst – natürlich nur im Geiste, denn ich sprach nicht laut. ›Ich denke wohl, das könnte es sein: Es klingt nicht so maßlos wie die Worte Freiheit, Aufregung und Vergnügen. Diese Worte klingen verlockend, aber sie sind für mich doch nichts anderes als Laute – so hohl und flüchtig, dass es wahre Zeitverschwendung ist, ihnen auch nur zu lauschen. Aber eine Stelle, das ist eine Tatsache! Jeder kann dienen! Ich habe hier acht Jahre gedient, und jetzt wünsche ich ja nichts weiter, als anderswo dienen zu dürfen. Kann ich meinen eigenen Willen denn nicht wenigstens so weit durchsetzen? Ist das denn nicht zu erlangen? Doch, dieses Ziel ist nicht so unerreichbar! Wenn nur mein Gehirn aktiv genug wäre, um die Mittel aufzuspüren, es zu erreichen.‹
Ich saß aufrecht im Bett, um meinen Verstand zur Tätigkeit anzuspornen. Es war eine frostige Nacht; ich bedeckte meine Schultern mit einem Schal und begann, mit allen Kräften zu grübeln.
›Was wünsche ich denn eigentlich? Eine neue Stelle in einem neuen Haus, unter neuen Gesichtern, unter neuen Verhältnissen. Dies wünsche ich, weil es nichts nützt, etwas Besseres, Größeres zu wünschen. Wie machen die Leute es denn, eine neue Stelle zu bekommen? Sie wenden sich vermutlich an ihre Freunde. – Ich habe keine Freunde. – Es gibt aber viele Menschen, die keine Freunde haben und sich
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